45. Widerstand im deutschen Wald
... und das eiserne bonapartische Szepter gegen die Anarchie
Von Frühjahr 1813 bis Frühjahr 1814 war Hamburg Kriegsschauplatz. Napoleon war in Moskau gescheitert und seine Armee räumte die Gebiete nördlich der Elbe – aber nur für kurze Zeit, dann standen die Truppen des Kaisers wieder auf dem Großneumarkt. Ende des Jahres schlossen Russen und Preußen die französische Festung Hamburg ein. Die Belagerung begann.
Dies ist Teil 45 der Aufklärung in Hamburg: Johann Heinrich Bartels, Amandus Augustus Abendroth, Ferdinand Beneke und die Verbesserung ihrer Republik 1790–1835, which you can also read in English. Die Einleitung beschreibt, worum es geht, und wer einen Überblick über die bisher veröffentlichten Kapitel haben möchte, klickt bitte hier.
Am 30. Mai 1813 zogen die französischen Truppen unter General Vandamme wieder in Hamburg ein. Die Senatoren Bartels und Abendroth hatten es schon geahnt, als das wilde Abenteuer der Selbstbefreiung begann. Es war auch für sie jetzt klug, die Stadt zu verlassen. Der vernünftige Bürger hatte Verpflichtungen gegenüber seiner Familie. Bartels war einer der Letzten, die gingen. Erst als alles unwiederbringlich verloren war, und meine Gegenwart meiner unglücklichen Vaterstadt von keinem Nutzen seyn konnte, verließ ich das Stadthaus … ohne irgend etwas von meinem Eigenthum, als meine Familie … zu retten.1 Die Familie verbrachte einige Zeit im Haus des berühmten Theaterdirektors und Freimaurers Friedrich Ludwig Schröder in Rellingen. Trotz Flucht galten Regeln für die Kinder. Sie mussten ins Bett, hätten sich aber lieber die Lesungen des berühmten Schauspielers und Theaterdirektors angehört.2 Mitte Juni war Bartels dann zu Gast bei seinem alten Freund Christian Martin Hudtwalcker in Itzehoe und machte mit ihm Visiten bei den ersten Familien der Stadt.3 Er traf dort auf Ferdinand Beneke. Die beiden nahmen kaum Notiz voneinander.
Auch Abendroth musste fliehen, erst nach Kiel, dann weiter nach Mecklenburg. Den Sachverhalt beschrieb er eigenartig distanziert: Der Maire hatte sich entfernt, um wie man sagt nicht erschossen zu werden.4 Die Gefahr, die von den rückkehrenden Franzosen ausging, war aber nur die eine Seite. Immer schwang auch die Furcht vor entfesseltem Volk mit, vor dem Tiger Volk, der seinerzeit in Paris Revolution veranstaltet und die Besitzenden an den Laternen aufgehängt hatte. Johanna Abendroth war starr vor Schreck. Als wir im Hofe einstiegen, war eine Menschenmenge dort versammelt, die Gewehre haben wollten, um sich zu verteidigen. Sie schimpften und schalten: dass sie vor dem Rest sitzen müssten, während die Reichen davon gingen! Als wir wegfuhren, stellte sich mein Mann an das Fenster und so kamen wir glücklich fort. Ich sah unseren Tod vor Augen, denn alle Revolutionsgeschichten schwebten mir vor.5 Die Reichen auf der Flucht und das Volk außer Rand und Band. Den Bürger verfolgte der Schrecken der Revolution bis ins Unterbewusstsein. Johanna Abendroth hatte gleich nach ihrer Ankunft in Hamburg von wilden Volksaufläufen geträumt und dies Bild hatte sie nie verlassen. Auf dem Großneumarkt sah es plötzlich so aus, als würde der Traum wahr werden. Überall Gebrüll, die Männer bewaffnet, Frauen fuhrwerkten mit Schubkarren umher, schreiende Kinder.6 Manche Bürger, Amandus Augustus Abendroth zum Beispiel, kamen auf die Idee, daß nur ein eisernes bonapartisches Scepter die Welt beruhigen wird.7
Im Chaos kam es zu absurden Szenen. Es passierte ausgerechnet Ferdinand Beneke, der gern über das Publikum der Memmen herzog. Der Fall der Stadt stand unmittelbar bevor, was auch ihm nicht ganz entgangen sein konnte.8 Da gönnte er sich eine kleine Auszeit, traf Frau und Kinder, die auf sicherem Terrain im dänischen Nienstedten untergebracht waren, und verbrachte einen sonnigen Nachmittag mit Kaffeetrinken und Spaziergängen im Grünen. In der Nacht wollte er zurück, um die Verteidigung wiederaufzunehmen. Aber die Tore waren geschlossen. In die Stadt rückten kaiserlich-französische Truppen ein. Mit blutendem Herzen meldete ich Karoline meine Flucht.9 Er kam irgendwann in Rellingen bei Friedrich Ludwig Schröder an. Senator Bartels und Otto von Axen waren schon da. In Münsterdorf an der Stör quartierte er sich bei seinem Freund Schütze ein, der schon seit längerer Zeit das Landleben genoss. Caroline und die Kinder zogen Anfang Juli aus Nienstedten zurück nach Hamburg in das Haus ihrer Eltern.10 Die familiäre Situation war nicht ganz ungetrübt. Otto von Axen war als Munizipalrat entlassen worden, wäre es aber gerne geblieben. Er gab seinem Schwiegersohn Ferdinand die Schuld. Der wollte das nicht wahrhaben. Seine lebenskluge Frau Caroline musste ihn darauf aufmerksam machen: Mein lieber vernagelter Mann begreifst du den gar nicht was ich damit meine wenn ich schreibe mein Vater ist abgesetzt, er glaubt wegen Familien Verhälltniße, sein Schwieger Sohn wird wol dies FamilienVerhälltniß sein, so glaubt er, … er will eben so wenig wissen, wo du bist als, wo Otto und Eduard sind.11 Otto und Eduard waren seine Söhne, die ebenso wie der Schwiegersohn Beneke auf nationale Abwege geraten waren.
Im Sommer schloss sich Beneke in Güstrow dem Widerstand an, als Major und Generaladjutant trat er wieder der Bürgergarde bei.12 Seiner Frau musste er versprechen, vom Kämpfen möglichst Abstand zu nehmen und die Art meiner etwanigen VaterlandsDienste mit der Erhaltung meines Lebens möglichst zu vereinbaren.13 Lebensgefahr bestand auch unmittelbar nicht. Korrespondenz, Kartenzeichnen, Table d’hôte und diverse Vergnügungen spielten vorerst eine Hauptrolle, darunter eine altgermanische JubelZeche.14 Einige Teilnehmer waren stark betrunken und nach anfänglichem Jubel flogen die Beleidigungen. Ein Duell konnte nur knapp verhindert werden. Auch modische Fragen waren zu klären. Was trug man im Generalstab? Die Frage hatte jetzt nicht erste Priorität – aber dann doch. Wenn es bey Huth, und Frack bleibt, so bleibt es ja auch wol a) bey den kleinen gelben Knöpfen … wie Prell, und ich sie schon tragen? b) auch bey den hellgrauen Pantalons, die deshalb den blauen vorzuziehen sind, weil dreymalblau bey einem Frack übelsteht … Godeffroy wünschte einmal statt der grauen, oder neben ihnen, weiße Pantalons – die würden meiner Meinung die Kleidung aber zu elegant machen.15 Entscheidungen waren zu treffen.
Dann wurde es politisch. Beneke und Freunde trafen sich unter romantischen Umständen im Wald und gründeten das Hanseatische Direktorium. Ich zog mit Gries, Curtius, Perthes, und Sieveking nach der Glewinschen Burg, wohin auch Mettlerkamp zu Pferde kam. In dem einsamen KlusWalde am NebelThale hielten wir sechs, zum Theil im Grase gelagert, unsre erste Hanseatische RathsVersammlung.16 Es war wie im deutschen Märchen tief im Tann, die Wipfel der RiesenFichten, unter denen wir lagerten, rauschten gar zu hymnenreich!17 Typisch Beneke. Am nächsten Tag war er etwas verkühlt, als die Amtsträger des Vereins ein offizielles Déjeuner dinatoire für 23 Personen zur Feier der Gründung des Direktoriums gaben. Zu banal. Nach einer Viertelstunde ging er. In seiner germanischen Begeisterung war er etwas schwierig.
Das Direktorium war eine disparate Truppe, neben Rechtsanwalt Beneke bestand es aus einem Hamburger und einem Lübecker Syndikus, einem Dachdecker, einem Buchhändler und einem ziemlich frisch promovierten Juristen aus guter Familie. Später kam noch Johannes Geibel, ein reformierter Pastor, dazu. Sie behaupteten, die Interessen der Hansestädte zu vertreten, schrieben Memoranden, dachten sich eine neue Verfassung für die Republik aus, entwarfen eine Regierungs- und eine Verfassungskommission, ernannten auch gleich deren Mitglieder, waren sich aber so ziemlich im Klaren darüber, dass einige Kandidaten diese Ehre ablehnen würden, auf die Herren Abendroth und Bartels ist schwerlich zu rechnen,18 erkannte Dr. Beneke hellsichtig. Das war realistisch. Die beiden hielten nichts von national rauschenden Riesenfichten und Versammlungen im Walde. Zu seinem Tun berufen hatte das Direktorium niemand.19 Vaterländischer Enthusiasmus half den hanseatischen Direktoren darüber hinweg. Es gab dann auch viel Misstrauen.
Johann Joachim Hanfft, selbst ein etwas schillernder Charakter, Chef der Reiter der Hanseatischen Legion, warf dem Direktorium vor, die zivilen Autoritäten der Republik zu untergraben. Der rüstige Schlachter machte Schwindel-Projecte im nationalen Widerstand aus und regte sich sehr darüber auf: Ich donnerte darüber recht dazwischen, da ich in dem Augenblicke ihr interimistisches Directorium untergrub, da sie mich zum Mitgliede desselbigen machen wollten, und erklärte offen, daß es nicht unsere Sache sei, die künftige Autorität der Stadt uns anzueignen, da wir, wie die Zigeuner, umherzögen, und, wie die Heuschrecken, Alles auffräßen; daß wir dagegen bei unserer Rückkehr unsere zurückgebliebenen, unglücklichen Mitbürger fragen müßten, wer sich am edelsten benommen; daß Hamburgs Bürger so wenig dem tollen H a n f f t, als dem Schwindler P e r t h es, dem Parteigänger G r i e s, dem Schwärmer B e n e k e dem Knaben S i e v e k i n g, als dem Bleidecker M e t t l e r k a m p gehorchen würden. Darum wurde ich mit ihrem Haß beladen, und sie suchten mich auf alle Art zu verkleinern und zu schaden, und behaupteten sogar, daß ich ein erklärter Gegner des Senator A b e n d r o t h wäre.20 Hanfft behielt seine Ansicht nicht für sich, sondern schickte sie direkt an den Senator Abendroth, dessen erklärter Gegner er nicht sein wollte. Offenbar war der Widerstand tief zerstritten.
Beneke hatte Hanfft schon zuvor zu einer politisch gefährlichen revolutionären Person erklärt. Sein plötzliches Reichwerden (dank Heyrat einer alten reichen Witwe) hatte seine Eitelkeit ergriffen, Schiller, und Göthe rectius Rinaldo Rinaldini, sie zur Ehrsucht (zum … Revoluzionären) heraufgestimmt. Bey sehr mäßigem Verstande, und viel (Crispinscher) Liberalität hatte sich die Idée bey ihm fixirt, ein VolksBefreyer zu werden; die Tyranney der Franzosen, die Elendigkeit unsers alten Senats gab dieser Idée den Schein der Rechtlichkeit. Er wurde komplet … Jakobiner, von ihm scheint der 24. Febr. herzurühren … Jetzt kommt er mir halbverrückt vor. Seine Moral ist durchaus … jakobinisch. Er ist wirklich im Besitze der PöbelGunst, die er sich dank baare Aufopferung von mehr als 100 000 Mark (seine eignen Worte!) erworben.21 Ein zweyter Robespierre,22 so sah Beneke das. Abendroth fiel in diesem Brief vielleicht eher das Wort vom Schwärmer Beneke auf – was unter Aufklärern als gemeingefährliche Kategorie galt. Hanfft jedenfalls investierte nach beendetem militärischen Abenteuer am Dragonerstall in die Erholung, einen spektakulären Kaffeegarten mit Kegelbahn, Saal, Lese- und Spieltischen.23 Die ehemaligen Kameraden hatten Freitisch. Das 8.000 Quadratmeter große Grundstück schenkte ihm der Senat – für seine Verdienste. Es konnte wohl nicht schaden, sich einem populären Volksmann dankbar zu zeigen, förderte vielleicht auch nebenher die eigene Popularität. Der Volksbefreier inszenierte sich jedenfalls nach Kräften – er trat mit eigenen Leibhusaren auf. 1825 segelte er nach Brasilien. Er war Auswanderungsunternehmer geworden.24
Und das Direktorium? Es schlief schon im Dezember 1813 wieder ein, nachdem die Mitglieder viel geschrieben, viel geredet und wenig erreicht hatten.25 Grundstücke am Dragonerstall von einem dankbaren Senat erhielten die Exdirektoren auch nicht.
Hamburg war also seit dem Sommer 1813 wieder eine französische Stadt. Die Bürger hatten das Imperium herausgefordert und es reagierte: Belagerungszustand, Aufhebung der konstitutionellen Rechte, Strafkontributionen; Repressalien und Racheakte der Armee gab es auch. Die Stadt sollte zahlen, meinte der Kaiser26 – 48 Millionen Franc. Tagelöhner und kleine Handwerker waren befreit, von den Bürgern wurde das Geld gefordert, besonders von den Reichen unter ihnen.27 Auf Beneke entfielen 6.750 Francs. Woher das Geld nehmen? Seine Schulden beliefen sich immer noch auf 20.000 Mark, also etwa 25.000 Francs.28
Abendroth, obwohl im Exil, reaktivierte seine Kommunikationswege nach Paris. Bis Oktober 1813 zweifelte er nicht daran, dass Hamburg Teil des französischen Kaiserreichs bleiben würde.29 Darauf musste man sich einstellen, nationale Befreiungspoesie war dabei hinderlich. Er schrieb Briefe. Der Prinz, also Davout, ließ mir antworten, ich möge mich nach Holstein begeben, die Gründe meiner Abwesenheit angeben, dann wolle er, wenn sie ihm valabel schienen, einen Bericht an den Kaiser machen, wenn sie ihm nicht triftig schienen, so solle ich dann prävenirt werden, um hin gehen zu können, wohin ich wolle.30 Unter den waltenden Umständen war das eine sehr zivilisierte und höfliche Antwort. Das Regime des Kaiserreichs war selbst unter Anspannung in der Regel kein Terrorregime, wie die deutschnationale Hysterie es ausmalte, Ferdinand Beneke zum Beispiel, der mit seinem Tunnelblick überall nur noch das Fremde, das Feindliche, die Tyranney31 erkannte. Abendroth hingegen verhielt sich wie andere Notabeln des Reiches in vergleichbaren Situationen. Verbindungen wurden aktiviert, Memoranden geschrieben, Informationen weitergeleitet.
In Paris bemühte sich derweil Bourrienne, ehemals Gesandter Napoleons in Hamburg, den Ex-Maire wieder gesellschaftsfähig zu machen.32 Abendroth reiste unverzüglich in die Hauptstadt. Ich machte mir Hoffnung, in Paris etwas ausrichten zu können. Ich wollte meinen Sohn in Brest sehen und faßte also den Entschluß dahin zu gehen.33 Im September und Oktober 1813 erneuerte er dort seine Beziehungen. Die Voraussetzungen waren nicht schlecht, die französischen Beamten in Hamburg hatten mittlerweile erkannt, was sie an ihm hatten, gerade in dieser verfahrenen Situation. Der neue Präfekt der Elbmündungen schrieb an Innenminister Montalivet: Das Stadthaus in Hamburg ist eine kleine Präfektur, da sind womöglich noch mehr Details zu erledigen, und der Chef muß sie alle beherrschen und mit Präzision verfolgen, sonst gibt es Verzögerungen, Durcheinander, Mißbräuche und berechtigte Klagen darüber.34 Und dann: Eure Exzellenz wird schon ahnen, daß ich auf Monsieur Abendroth hinauswill.35 Der sollte wieder Bürgermeister werden. Den zwischenzeitlich ernannten Ersatzmaire hatte der Präfekt schon mehrere Male rügen müssen: zu passiv, zu untätig, ohne Erfahrung und ohne Kenntnisse.
Das Terrain war für Abendroth also in Paris vorbereitet. Der Erfolg war dennoch mäßig, obwohl es an eleganter und einflussreicher Gesellschaft nicht fehlte. Montalivet zeigte sich versöhnt, lud wieder zum Diner – im Frack bitte. Eine Einladung kam auch von Jean-Jacques Régis de Cambacérès, Erzkanzler und Herzog von Parma. Das Hôtel Molé, seine Residenz, war berühmt für seine Spitzenköche und der Herzog gehörte nicht zu den Bescheidenen: En public, appelez-moi Altesse Sérénissime, mais entre nous, il suffit que vous m’appeliez Monseigneur,36 soll er einmal gesagt haben. Im ganz intimen Kreis wurde er Tante Turlurette genannt. Ob Dr. Abendroth Sinn für Pariser Stadtklatsch hatte, ist leider nicht überliefert. Interessanter war für ihn vielleicht, dass er bei einem der Autoren des Code civil zu Gast war. Zu greifbaren Ergebnissen führte das alles nicht.
Ein Memorandum über den Stillstand des Handels, den Zusammenbruch der Industrie und die Massenarbeitslosigkeit unter den Hamburger Arbeitern legte Abendroth dem Innenminister vor. Im Mittelpunkt stand immer noch seine alte Überzeugung, die Stadt müsse sich auf die Garantien der Verfassung des Kaiserreichs berufen, das Recht der Provinzen in der Metropole einfordern. Es war der erste und wichtigste seiner Wünsche für Hamburg, son rétablissement dans la jouissance des droits constitutionnels.37 Das reichte natürlich nicht, die Strafzahlungen mussten reduziert, Arbeitsbeschaffungsprogramme auf Kosten der Regierung finanziert werden. War das realistisch? Abendroth hatte selbst das Gefühl, sich auf sehr dünnem Eis zu bewegen, eigentlich war es wohl schon eingebrochen. Die Wünsche für seine Stadt jedenfalls brachte er in tiefster Bittstellerhaltung am Thron der unumschränkten Gewalt vor, nicht gerade eine Haltung, für die die alte Republik ihn gekannt hatte. Er wandte sich direkt an den Kaiser: Si Vous aimez mieux pardonner que punir j’ose me jeter avec les Hambourgeois aux pieds de Votre Majesté & implore de Votre clémence le pardon du passé.38 Er und seine Hamburger in Sack und Asche zu Füßen des Kaisers. So hatte er sich 1811 die Option der französischen Verfassung wahrscheinlich nicht vorgestellt.
Anfang Dezember 1813 begann die Belagerung der französischen Festung Hamburg durch eine russisch-preußische Armee. Napoleon hatte die Verteidigung der Stadt angeordnet, um jeden Preis, je veux hatte er geschrieben. Für die Bewohner war die Belagerung eine Katastrophe. Tausende wurden ausgewiesen, weil sie sich nicht versorgen konnten. Aber Senator Abendroth machte seine Mitbürger kritisch darauf aufmerksam, dass es kluge Vorsorge war, eine belagerte Festung von ihren Bewohnern zu räumen. Es war eine Höchstleistung der kalten Vernunft, der Senator brillierte ab und an in dieser Übung: Es ist nicht nur Pflicht eines, in einer belagerten Stadt commandirenden, Generals, es ist auch menschlich, diejenige Klasse der Einwohner wegzuschaffen, die nur vom täglichen Erwerbe lebt, die höchstens in der einen Woche das verdient, was sie in der andern verzehrt; es ist würkliche Unbarmherzigkeit, hier den Wünschen der Leute, die ihr Bestes selbst nicht einsehen, zu sehr nachzugeben. Wenn es in Hamburg zu dem Extrem gekommen wäre, so würde man es erfahren haben, daß noch viel zu viel Bewohner in der Stadt geblieben sind. Allein alles hängt von der Art ab, wie solche Maasregeln ausgeführt werden.39 Einsicht und Dank der öffentlichen Meinung hielten sich in Grenzen.
Bemerkenswert war, dass es in der belagerten Stadt relativ ruhig blieb. Es lag am Geld. Die französische Armee in Hamburg brauchte viel Geld, und die Beschaffung wurde schon schwierig, bevor die Stadt eingeschlossen war. Mit dem Sturz des Kaiserreichs, der sich abzuzeichnen begann, versiegten die Finanzquellen. Anfang November gab der oberste Finanzchef Chaban die letzten 40.000 Francs für die Bezahlung der Löhne städtischer Arbeiter aus. Ein dringliches Schreiben ging an Davout: Heute sind alle Kassen erschöpft, alle Hülfsquellen versiegt.40 Die Rettung waren die Silberbestände der Hamburger Bank.41 Sie wurden konfisziert, selbstverständlich ordnungsgemäß, so war die Armee, Beschlagnahme gegen Quittung. Die hielt fest, dass sie sich 7.506.956 Bancomark und vier Schilling angeeignet hatte.42 Am 13. Dezember tauchten die ersten neugeprägten Zweimarkstücke auf. Chabans wurden sie genannt und wurden gern genommen, weil sie in der Eile zu gut geprägt waren, also mehr Silber enthielten, als sie eigentlich sollten.43 Es ergoss sich ein Strom von Geld in die belagerte Stadt. Die Verlierer der Transaktion, die reichen Kaufleute, deren Konten geplündert wurden, fühlten sich dadurch nicht getröstet. Abendroth konstatierte dagegen trocken, dass nach Wegnahme des französischen Geldes in Bremen durch die Alliirten, die Autoritäten in Hamburg – die französischen Autoritäten also – außer Stand gesetzt wurden, auch nur die geringste Zahlung zu machen,44 und dass deshalb die Konteninhaber die Gefahr hätten erkennen müssen, die ihrem Geld drohte.
Die Stadt blieb ruhig. Zu verdanken war das der bewaffneten Macht und ihren nunmehr gut gefüllten Kassen. Die Geldwirtschaft funktionierte mit der Armee im Zentrum, sie wurde zur Geldquelle der Stadt. Die besitzenden Klassen wurden herangezogen, um die Ruhe unter den Armen zu sichern, das war die französische Ansicht. Or de tout le siège il n’y eut pas la moindre émeute malgré les incessants appels à l’insurrection déversés de l’extérieur. En cela, la saisie de la Banque, mesure sociale prise au détriment des grosses fortunes, fit payer aux riches le prix de la tranquillité des pauvres.45 Es war wohl nötig, denn aus eigenem Antrieb konnten sich die Reichen nicht so recht zur Unterstützung der Armen entschließen. Caspar Voght machte da eine merkwürdige Beobachtung. Die Spenden der Wohlhabenden für die Armenanstalt fielen 1813 um 60 Prozent, die Beiträge des Mittelstandes nur um 30 Prozent.46 In der Tat eine merkwürdige Beobachtung. Den kleinen Leuten machte das konfiszierte Geld aus der Bank das Überleben möglich, der Stadt erhielt es einen Rest von Normalität.
Ex-Maire Abendroth zeigte ein gewisses Verständnis: Militärisch betrachtet glaube ich, schrieb er im April 1814 an den russischen General von Bennigsen, der die Belagerung leitete, … kann es dem Marschall Davout … nicht übel gedeutet werden, sich in der belagerten Stadt die Bedürfnisse zu verschaffen, die der Dienst unumgänglich erfordert.47 Damit war das Silber der Bank gemeint. Das Problem war nur, dass Davout und seine Offiziere sich mehr verschafften, als der Dienst unumgänglich erforderte. Auch Abendroth kam bei allem Verständnis nicht daran vorbei: es ist mit Billigkeit und Unpartheylichkeit das Schwierige seiner Lage beachtet, und doch bleibt noch so vieles nach, was weder zu rechtfertigen noch zu entschuldigen ist. – Der Kriegsminister – Abendroth meinte den Kriegsminister des neuen bourbonischen Frankreich – hatte wohl Recht zu behaupten, daß er willkührliche Handlungen beging, qui ont rendu odieux le nom français.48 Die den französischen Namen also anrüchig und verhasst machten. Das war das Ende der Réunion, von opérer la fusion war keine Rede mehr, die Stadt war außerhalb des Gesetzes, das Militär regierte.
Die Abkürzungen StAHH, StAB und StACux beziehen sich auf Bestände der Stadt- und Staatsarchive von Hamburg, Bremen und Cuxhaven; die Fußnoten auf die Literaturliste.
Bartels: Bericht, S. 132.
Stromeyer: Erinnerungen, Bd. 2, S. 288f.
Beneke: Tagebücher, 21.6.1813.
Abendroth: Antwort, S. 19.
Abendroth’sche Lebenserinnerungen, S. 5.
Abendroth’sche Lebenserinnerungen, S. 5f.
StACux, Amtsarchiv Ritzebüttel I Fach 13 Vol B Fasc 2 Dok 119, Abendroth an Hartung, 12.4.1831.
Beneke: Tagebücher, 29.5.1813.
Beneke: Tagebücher, 30.5.1813.
Beneke: Tagebücher, 30.6. und 3.7.1813.
Caroline an Ferdinand Beneke, 17.6.1813, Beneke: Tagebücher, III/4, S. 235.
Beneke: Tagebücher, 1.8. und 3.8.1813.
Beneke: Tagebücher, 9.7.1813.
Beneke: Tagebücher, 4.8.1813.
StAHH, Familie Perthes Friedrich Perthes I Mappe 5c Dok 154, Beneke an Perthes, 13.9.1813.
Beneke: Tagebücher, 14.8.1813. Syndikus Johann Michael Gries, Syndikus Carl Georg Curtius, Buchhändler Friedrich Perthes, Jurist Karl Sieveking, Dachdecker David Christopher Mettlerkamp.
Beneke: Tagebücher, 14.8.1813.
Beneke-Tagebücher, Bd. III/4, S. 403.
Die Namen: Johann Michael Gries, Carl Georg Curtius, David Christopher Mettlerkamp, Friedrich Perthes, Karl Sieveking, Johannes Geibel, Peter Godeffroy.
Hanfft an Abendroth, 25.4.1814, zitiert nach Mönckeberg: Hamburg, S. 179.
Beneke: Tagebücher, 8.8.1813.
Beneke: Tagebücher, 8.8.1813.
Beneke: Tagebücher, 9.10.1815 und 24.9.1816.
Richter: Auswanderungen, S. 118.
Beneke: Tagebücher, 15.12.1813; Mönckeberg: Hamburg, S. 198.
Charrier: Davout, S. 595.
Mönckeberg: Hamburg, S. 122f.
Beneke: Tagebücher, 19.6. und 22.6.1813.
Abendroth: Antwort, S. 30.
Poel: Hamburgs Untergang, Kommentar Abendroths, S. 63.
Beneke: Tagebücher, III/4, S. 658, so Beneke in einem Text von 1813/14 über die neuere Geschichte der Hansestädte.
Charrier: Davout, S. 595f.
Poel: Hamburgs Untergang, Kommentar Abendroths, S. 63.
Breteuil an Montalivet, 20.8.1813, zitiert nach Stubbe da Luz/Wurm: ‚Hamburg‘, Bd. 2, S. 184f.
Breteuil an Montalivet, 20.8.1813, zitiert nach Stubbe da Luz/Wurm: ‚Hamburg‘, Bd. 2, S. 185.
In der Öffentlichkeit nennen Sie mich Durchlauchtigste Hoheit, unter uns reicht Monseigneur.
StAHH, Senat Cl I Lit Pb Vol 8g Fasc 160d, Memorandum Abendroths für Montalivet, Begleitschreiben für den Kaiser, Entwurf, Sommer 1813. … seine Wiedereinsetzung in den Genuss der verfassungsmäßigen Rechte.
StAHH, Senat Cl I Lit Pb Vol 8g Fasc 160d, Memorandum Abendroths für Montalivet, Begleitschreiben für den Kaiser, Entwurf, Sommer 1813. Wenn Sie lieber verzeihen als bestrafen, wage ich es, mich mit den Hamburgern zu Füßen Ihrer Majestät zu werfen und um Vergebung für die Vergangenheit zu bitten.
Abendroth: Antwort, S. 33f.
Chaban an Davout, 2.11.1813, zitiert nach Mönckeberg: Hamburg, S. 208.
Charrier: Davout, S. 634–637.
Pehmöller: Darstellung, S. 110.
Mönckeberg: Hamburg, S. 212.
Abendroth: Wünsche, S. 144.
Charrier: Davout, S. 637. Während der gesamten Belagerung gab es nicht den geringsten Aufruhr, trotz der unaufhörlichen Aufrufe zum Aufstand von außen. In dieser Hinsicht zwang die Beschlagnahmung der Bank, eine soziale Maßnahme zu Lasten der großen Vermögen, die Reichen, den Preis für die Ruhe der Armen zu zahlen.
Voght: Gesammeltes, S. 106.
StAHH, Familie Voigt B 76 Unterakte 2, Abendroth an Bennigsen, 23.4.1814.
Abendroth: Antwort, S. 54. … die den französischen Namen verhasst gemacht haben.


