42. Wirtschaftlicher Absturz
Depression und Massenarbeitslosigkeit im napoleonischen Hamburg
Innerhalb kürzester Zeit erlebte Hamburg 1811 eine aufgeklärte Revolution von oben: Code Napoleon, Gewerbefreiheit und Zivilehe waren bis Ende des Jahres eingeführt. Progressive Bürger waren beeindruckt. Das Gesicht dieses Regimes des Fortschritts war Bürgermeister-Maire Abendroth. Dann kam die wirtschaftliche Depression und ruinierte weite Teile der Bevölkerung.
Dies ist Teil 42 der Aufklärung in Hamburg: Johann Heinrich Bartels, Amandus Augustus Abendroth, Ferdinand Beneke und die Verbesserung ihrer Republik 1790–1835, which you can also read in English. Die Einleitung beschreibt, worum es geht, und wer einen Überblick über die bisher veröffentlichten Kapitel haben möchte, klickt bitte hier.
Das Jammertal war nicht nur eine Vision nationaler Ideologen. Mit der Kontinentalsperre von 1806 setzte schon zur Zeit der Republik eine schwere Wirtschaftskrise ein. Das entging auch Senator Johann Heinrich Bartels nicht. Im Hafen sah er 320 Seeschiffe vor sich hinrotten und von 1806 bis 1809 verloren die Versicherungsgesellschaften nach seinen Informationen 20 Millionen Mark.1 Kurz zuvor, von 1802 bis 1805, hatten sie noch glänzende Geschäfte gemacht: Das Versicherungsvolumen war von 150 Millionen Mark pro Jahr auf 308 Millionen gestiegen und die Prämien waren gefallen.2 Auf die Rezession folgte die Arbeitslosigkeit. Im Hafen fiel 1808 die Zahl der angemusterten Offiziere und Matrosen faktisch auf null, kehrte 1809 und 1810 noch einmal auf 1.000 zurück und stand 1811 und 1812 wieder bei null. 1801 waren es noch mehr als 5.000 gewesen.3 Der Seehandel hatte faktisch aufgehört.
Die Risiken der Krise waren ungleich verteilt. Es konnte passieren und es passierte, dass die kommerziellen Klassen Gewinne auf Kosten des Staates und der kleinen Steuerzahler machten. 1806 verlangten die französischen Behörden die Konfiskation englischer Güter, die in den Speichern an den Fleeten lagerten. Es stellte sich heraus, dass das für die Kaufleute keine größere Katastrophe war. Die Republik zahlte den Franzosen aus öffentlichen Kassen 16 Millionen Francs und verhinderte so die Enteignung. Die Waren blieben im Besitz ihrer Eigentümer und das Spiel der Spekulation, das große Geschäft mit vermeintlich enteigneten Gütern, konnte beginnen: Die Waren, die danach noch im Preis stiegen, blieben das unbestrittene, freie Eigentum ihrer Besitzer.4 So Abendroth. Er verstand auch, was folgte. Die Kaufleute machten einen schönen Schnitt, streuten dann aber, sie hätten ihre Rettung selbst bezahlen müssen. Das stimmte nicht. Abendroth erklärte ihren Trick und die entgegengesetzte, gemeinnützige Absicht der Republik. Der Senat hat nicht proponirt, daß die 16 Millionen Franken von den Eignern getragen werden sollten …, sondern daß die Eigner, die von den steigenden Preisen profitirten, einige Procente bezahlen, daß nicht Leute, die keine Gelegenheit hatten etwas wieder zu verdienen, darunter leiden sollten.5 Die Eigner aber fanden, dass selbst ein paar Prozente zu viel seien. Der Senat hatte sich die Finanzierung der Operation etwas weniger einseitig vorgestellt.
Der Tiefpunkt der Krise wurde nach der Vereinigung mit Frankreich erreicht. Die Stadt steckte in der Klemme. Sie war zolltechnisch sowohl vom unmittelbaren Umland als auch vom französischen Binnenmarkt abgeschnitten. Es gab keine Zollunion des alten mit dem neuen Frankreich. Sogar Polizeidirektoren wie Aubignosc erkannten, dass das neue Regime damit einen kapitalen Fehler beging.6 Natürlich beschäftigte sich Abendroths Mairie mit der Situation. Von 27 Kattundruckereien mit ehemals 5.000 Beschäftigten existierten nur noch vier, von 435 Zuckerfabriken mit 6.000 Arbeitern nur noch 40. Diese Daten übermittelte der Maire-Bürgermeister im Sommer 1811 dem besorgten Staatsrat Chaban.7 Das großangelegte kaiserliche Programm zur Förderung der Zuckerproduktion aus Runkelrüben half auch nicht viel weiter. 1812 gründete ein Konsortium von Geschäftsleuten eine Aktiengesellschaft, die mehrere Fabriken für die Verarbeitung von Zuckerrüben einrichtete. Die Jahresproduktion kam aber nicht über 20 Tonnen Rohzucker hinaus, was nicht eben viel war.8
Massenarbeitslosigkeit breitete sich aus. Die europaweite Wirtschafts- und Finanzkrise des Jahres 1810 machte die Lage nicht besser. Auch die besitzenden Klassen gerieten in Gefahr. Im nahen Lübeck kam es zu einem Megabankrott. Bürgermeister Matthäus Rodde, in Hamburg bei den Abendroths, Bartels’ und Benekes wohlbekannt, war zahlungsunfähig. Die seismischen Wellen dieses Bebens reichten bis in die Pariser Haute Finance: Laffitte, Fould, Tourton gerieten ins Schleudern.9 Aber das musste man perspektivisch sehen. Für Beer Léon Fould war es nur einer von drei Bankrotten, über jedem hing ein verdächtiger Geruch von fausse faillite, von betrügerischem Bankrott, und ein Schloss konnte er sich immer noch leisten. Bürgermeister Rodde hingegen erholte sich nicht mehr. In Hamburg kamen im April 1811 die Sievekings unter die Räder.10 Statistiker registrierten einen Totalabsturz des Handels. Die britischen Exporte nach Deutschland – Hamburger Geschäftsleute waren in den meisten Fällen beteiligt – fielen innerhalb eines Jahres, von 1810 auf 1811, von 12 Millionen Pfund auf weniger als 100.000.11 In den amerikanischen Statistiken kamen die Hansestädte gar nicht mehr vor. Es gab nichts zu berichten.12 Katastrophe. Jetzt trat ein, was Monsieur Bourrienne prophezeit hatte: Jusqu’ici on n’a vu que des roses.13
Die Union mit Frankreich, zumindest ja von einigen mit Hoffnung betrachtet, erwies sich ökonomisch als Fiasko. Für die Arbeitslosen blieb praktisch nur der tägliche Gesetzesbruch, wenn sie etwas verdienen wollten. Das konnte jeder an den Stadttoren beobachten. Zwischen 6.000 und 10.000 Schmuggler waren 1809 zwischen dem dänischen Altona und Hamburg unterwegs.14 Es wurde im Juni 1812 schlagartig riskanter.15 Die Zollgerichte nahmen mit Verspätung ihre Arbeit auf. Bis dahin drohte den illegalen Grenzgängern eigentlich nur der Verlust der Ware. Dann das erste Urteil: sechs Monate Gefängnis. 120 Urteile dieser Art folgten innerhalb von zwei Wochen im Sommer 1812.16 Es ging weiter in diesem Stil, zehn Jahre Zwangsarbeit für größere Warenmengen, Todesstrafe, wenn es zu Gewaltanwendung kam. Es war ein Schock. Selbst die Chefs französischer Behörden, ausgerechnet Eudel vom Zoll und Aubignosc von der Polizei, fanden diese Brachialjustiz unangemessen. Es half aber nicht.
Der unbescholtene Bürger machte sich auch seine Gedanken. Jonas Ludwig von Heß, der Topograf, betrachtete die Entfesselung von krimineller Energie mit Sorge. Hart mit einem Orte zusammen gränzend, woselbst jedes außer-europäische Product um die Hälfte wohlfeiler zu haben war, benutzten Tausende von Armen diese seltene Gelegenheit, um einiges auf eine nicht saure, wenn gleich verbothene Weise zu gewinnen.17 Die Sache lohnte sich. An einem Tag verdienten pfiffige Grenzgänger einen Wochenlohn.18 Ein Pfund geschmuggelter Kaffee ernährte einen Menschen für einen Tag.19 Die Lage war paradox. Wirtschaft und Handel steckten in einer tiefen Krise, die kleinen Leute aber nutzten ihre Chance auf schnellen Gewinn. Überall in Europa, wo der Staat Geld forderte, entdeckten sie ihren Unternehmergeist und schmuggelten, was das Zeug hielt. Zum Beispiel in Paris direkt unter der Nase des Konsuls und Kaisers. Die Kommune erhob Verbrauchssteuern, die an den Zugängen zur Stadt fällig wurden. Sie brachten viel Geld ein, um die 20 Millionen Francs pro Jahr nach 1804. Das Volk schmuggelte oberirdisch und unterirdisch, in doppelbödigen Wagen und durch die Kanalisation. Der Polizeipräfekt schätzte die Zahl der Aktivisten auf dix mille, tous armés, courageux, commandés par des chefs hardis et entreprenants.20 Die Schmuggler am Millerntor schienen im Vergleich zu ihren bewaffneten Pariser Kollegen eher friedfertiger Natur zu sein. Die Bürger gruselten sich trotzdem über den Verfall der Sitten. Die aufgeklärte Politik gruselte sich noch aus einem anderen Grund. War es möglich, dass sozialer Notstand und nationale Erhitzung sich unter bestimmten Umständen zu national-revolutionärer Gewalt steigern würden? Das sollte sich in Kürze zeigen.
Die Abkürzungen StAHH, StAB und StACux beziehen sich auf Bestände der Stadt- und Staatsarchive von Hamburg, Bremen und Cuxhaven; die Fußnoten auf die Literaturliste.
Bartels: Abhandlungen, S. 91f.
Soetbeer: Handel, S. 18. Diesen Wert sollten sie bis 1838 nicht mehr erreichen. Soetbeer, Handel, S. 70.
Schmidt: Hamburg, Teil 1, S. 764.
Abendroth an Colquhoun, 10.2.1814, zitiert nach Stubbe da Luz/Wurm: ‚Hamburg‘, Bd. 2, S. 199.
Poel: Hamburgs Untergang, Kommentar Abendroths, S. 2.
Schmidt: Hamburg, Teil 1, S. 659.
Schmidt: Hamburg, Teil 1, S. 652.
Schmidt: Hamburg, Teil 1, S. 663–666.
Tulard: Napoleon, S. 426.
Sieveking: Georg Heinrich Sieveking, S. 394.
Schmidt: Hamburg, Teil 1, S. 636.
Schmidt: Hamburg, Teil 1, S. 643.
Charrier: Davout, S. 438.
Schmidt: Hamburg, Teil 1, S. 307.
Schmidt: Hamburg, Teil 1, S. 629–632.
Vidalenc: Départements, S. 432.
Heß: Hamburg, Teil 2, S. 247.
Aaslestad: Place, S. 255.
Das war die Einschätzung des französischen Generals Morand aus dem September 1810. Schmidt: Hamburg, Teil 1, S. 313; Vidalenc: Départements, S. 432.
Zitiert nach Fierro/Palluel-Guillard/Tulard: Histoire, S. 990. Die Zahl der Schmuggler betrug 10.000, alle bewaffnet, mutig, kommandiert von verwegenen und unternehmenden Chefs.


