43. Nationale Revolution
Aufgeklärte Bürger fürchten das losgelassene Volk
Ordnung oder Anarchie, mit dieser Alternative sahen sich Hamburgs Bürger im Frühjahr 1813 konfrontiert. Ordnung versprach Napoleons Kaiserreich, Anarchie drohte vom national erhitzten Volk. Maire Abendroth fürchtete ein neues 1789, Kammerpräsident Bartels ebenfalls. Dr. Beneke hingegen erkannte – nach kurzem Zögern – im Volksaufruhr eine Chance für die deutsche Nation.
Dies ist Teil 43 der Aufklärung in Hamburg: Johann Heinrich Bartels, Amandus Augustus Abendroth, Ferdinand Beneke und die Verbesserung ihrer Republik 1790–1835, which you can also read in English. Die Einleitung beschreibt, worum es geht, und wer einen Überblick über die bisher veröffentlichten Kapitel haben möchte, klickt bitte hier.
Anfang Juni 1812 traf die Nachricht über den Beginn des Krieges mit Russland in Hamburg ein. Die ganze Stadt ist von der KriegsNachricht allarmiert,1 schrieb Ferdinand Beneke in sein Tagebuch. Die große Armee Napoleons war nach Moskau aufgebrochen. Erst einmal gab es Siegesmeldungen. Maire-Bürgermeister Amandus Augustus Abendroth setzte sich zur Gestaltung des obligatorischen kirchlichen Festgeschehens mit Pastor Rambach in Verbindung und war mit dem Ergebnis zufrieden. Ich habe Ew. Hochwürden noch meinen Dank abzustatten, für das zweckmäßige Gebet, welches Sie bey Gelegenheit des letzten Te Deums zu entwerfen die Güte gehabt haben.2 Selbst Beneke, der angesagte Feind Napoleons, erwartete weitere Siege. Die französische Administration hingegen war sich der öffentlichen Reaktionen nicht so sicher. Mit einem Dekret aus Moskau vom 5. Oktober erlaubte der Kaiser den Export von Hamburger Schinken.3 Der zensierte Correspondent machte eine große Sache daraus, es war leicht absurd. Und der Kaffeepreis begann zu fallen. Die kommerziellen Klassen bereiteten sich offensichtlich auf das Ende der Kontinentalsperre vor.4
Am 13. November stand die etwas verwunderliche Nachricht von dem RückZuge der Franzosen aus Moskwa5 in der Zeitung. Dann hieß es plötzlich, Napoleon sei tot. Lächerlich, fand Beneke. Der Feldzug von 1812. ist für Napoleon nicht nach Wunsch gelungen, für die Rußen aber noch weniger, denn nachdem ihr Land zerstört, ihre alte Hauptstadt vernichtet, ungeheurer Verlust an Land, und Leuten, Geld, und Muth ihnen verursacht, darf sich ihr Feind ungeschlagen, d.h. mit mäßigem Verlust, wol gar siegend einherziehend, dahin zurückziehen, wo er für den Winter Unterhalt findet, und von wo aus er die Operazionen für 1813. am bequemsten wieder anfangen kann.6 Das aber war eine dramatische Fehleinschätzung. Zuerst zeigte es sich an den nervösen Reaktionen der Polizei. Leute, die eifrig den Tod des Kaisers herumerzählt hatten, saßen plötzlich im Gefängnis.7 Je näher der Krieg kam, desto stärker rückte die Sorge um die innere Sicherheit in den Mittelpunkt. Auch Beneke hatte deutlich die Gefahr innerer Unruhen vor Augen und sprach diskret mit Freunden und Bürgern, konkret mit Ex-Bürgermeister Wilhelm Amsinck, über Maßnahmen, womit man in gewißen möglichen Fällen der öffentlichen Macht gegen anarchische Katastrophen zu Hilfe kommen könne.8 Dieser Fall kam dann ziemlich schnell.
Unruhen in den neuen Departements waren nichts Ungewöhnliches – bei der Einberufung von Wehrpflichtigen oder bei Zollkontrollen. Die Autoritäten reagierten schnell und präventiv. In Hamburg besang 1811 ein Bänkelsänger das Schicksal eines gramgebeugten Vaters, der seinen beiden Söhnen nach Erhalt des Einberufungsbefehls den Hals durchgeschnitten hatte. Polizeichef d’Aubignosc ließ den Künstler verhaften und machte sich umgehend auf die Suche nach weiteren chansonniers qui débitent des couplets contre la conscription.9 Im niederländischen Scheveningen passierte es im März 1812. Frisch ausgehobene Mannschaften für die Flotte sollten eingezogen werden, aber es kam ein bewaffneter Mob.10 Für den kaiserlichen Beamten näherte sich dann der heroische Moment der Prüfung. Er stellte sich der Herausforderung und rief energisch zur Ordnung. Das Volk achtete die Autorität – tief im Inneren jedenfalls, so die Hoffnung. Sie wurde nicht enttäuscht – in diesem Falle. Nach einigem Hin und Her kamen die Matrosen auf den Schiffen an. Ein paar Wochen später in Leiden war es knapper. Bauern drangen in die Stadt ein, mit den üblichen Folgen: Sturm auf das Gefängnis und auf die Weinkeller. Die Bürger wurden unruhig, und französisches Militär stellte die Ordnung wieder her. Es gab Tote, für einige Teilnehmer endete die vaterländische Randale vor dem Erschießungskommando.11
In Hamburg wurde es im Februar 1813 ernst. Aubignosc hatte es vorausgesehen: Volksaufruhr beim ersten Kosaken westlich der Oder.12 Das stellte sich als hellsichtig heraus. Zu Explosionen kam es am Altonaer Tor, wo die Menge die Zollhäuser zerlegte, am Baumwall und am Rödingsmarkt.13 Die bürgerliche Analyse nach dem ersten Schreck war einheitlich: PöbelAufruhr,14 so Beneke, nachdem er am Morgen zu Hause am Holländischen Brook noch nichtsahnend eine ruhige Kaffeestunde mit Gattin Caroline zelebriert hatte. In anderen Stadtteilen ballte das Volk schon die Fäuste und schlug die kaiserlichen Adler herunter: lange my den AasVagel her!15 Das sah dem dummen Volk ähnlich. Bürger Beneke war ernstlich indigniert.
Ein anderer Bürger, Maire Abendroth, stand jetzt in der Schusslinie. Er tat, was die Regierung von ihm erwartete, und er tat, was der Bürger – ob in Kaiserreich oder Republik – von ihm erwartete: Er stellte die Ordnung her und sicherte das Eigentum. Er tat das mit einigem Mut, mit kaiserlicher Amtsschärpe,16 und versuchte die Menge am Rödingsmarkt zu beruhigen. Aber gegen enragiertes Volk half keine Popularität. Steine flogen und Abendroth musste fliehen. Für Innenminister Montalivet fand er dann vorhersehbar unfreundliche Worte über den Pöbel. Etwas herunterspielen wollte er die Ereignisse auch, das empfahl sich zur Pflege des Pariser Wohlwollens: Es war dieses ein planloses Aufstehen von alten Weibern und Kindern, … welches die unruhigen Schmuggler in ihrer planlosen Dummheit hernach selbst bereueten, da, mit der zerstörten Douanenlinie, die Einfuhr von Altona frey, und so ihr Erwerb gestöhret war.17 Das stimmte wohl. Die Preise in der Stadt fielen schlagartig, jetzt saßen die Schmuggler auf der Straße und bettelten, eine Beobachtung von Polizeidirektor d’Aubignosc.18
Die Sprache Abendroths war im Übrigen in Paris bekannt, Kaiser und Regierung verstanden sich gut darauf. Das Volk hatte sich eine Ausschreitung erlaubt, so etwas konnte überall passieren, auch in Frankreich, der Maire wies das Pariser Innenministerium diskret darauf hin, dass Bürger und Wohlhabende nichts damit zu tun hatten. Ce n’est absolument que la canaille, qui ait fait ces troubles.19 In solchen Lagen half nur Gewalt, der Maire hatte sie organisiert, il était nécessaire d’agir de vive force contre eux.20 Mit anderen Worten, Bürger und Maire hatten sich nichts zu Schulden kommen lassen. Empfehlenswert war es, sich dem Innenminister als Opfer der Volkswut vorzustellen, ein wenig Händeringen konnte nicht schaden. J’espère, que cet évenement … ne diminuera pas la bienveillance que Votre Excellence a eu pour la ville et pour moi et que sur le rapport qu’elle en fera probablement à Sa Majesté, l’Empereur, verra avec indulgence un évenement dont les Hambourgeois auraient pu être certainement le victime si les mesures énergiques n’eussent étouffé de suite ces moments de trouble.21 Aus Paris kam beruhigende Antwort. Aber Hamburg befand sich im Ausnahmezustand. Französische Repressalien machten die Sache nicht besser. Rädelsführer wurden erschossen – mehr oder weniger willkürlich.22 Der Maire drohte mit Rücktritt.23 Die Drohung wirkte. Keine weiteren Erschießungen.
Eine Bürgergarde sollte für die öffentliche Sicherheit in Bereitschaft gesetzt werden – schon vor den Unruhen. Damit wollte der Maire aber keineswegs die alte Bürgerwache der Republik wiederaufleben lassen, wo sich reich privilegierte Kapitäne – sogar zur Bürgerschaft waren sie zugelassen – mit mittelmäßigem militärischen Ergebnis wichtig getan hatten. Das klappte aber nicht, weil plötzlich alles sehr schnell gehen musste. Das Unwesen der Bürger-Capitäne, so Abendroth, mußte erneuert werden, weil in demselben Augenblick, wo man die Bürgergarde organisiren wollte, man ihrer auch bedurfte.24 Es entstand eine ziemlich undurchsichtige Gemengelage. Deutsch-inspirierte Freiheitskämpfer, Ferdinand Beneke voran, sahen jetzt ihre Stunde kommen. Sie agitierten gegen eine Nationalgarde nach französischem Modell.25 Das aber plante Abendroth gerade mit dem Präfekten. Er war am 24. Februar, so berichtete Abendroth über die frühen Morgenstunden dieses Tages über sein Treffen mit Präfekt de Coninck-Outrive, da ich seit einem Monat beständig auf die Organisirung der Bürgergarde drang, von 7 bis 9 Uhr bei mir, um sie zu verabreden. Wie er von mir ging hatte der Aufruhr bereits begonnen.26 Die Bürgerkapitäne und ihre Leute mussten in aller Eile reaktiviert werden.
Jetzt aber passierte etwas Merkwürdiges. Teile der reaktivierten Bürgerverbände gerieten unter den Einfluss der deutschen Opposition. Sie begannen Forderungen zu stellen. Wie Beneke am Abend des 24. Februar im Tagebuch notierte, besetzte seine Kompanie das Kornhaus am Alten Wandrahm, teilte dem Maire aber mit, dass fast alle Bürger wieder zu Hause gehen würden,27 wenn sie französiche Einrichtungen schützen sollten. Diese Information sah stark nach einem Ultimatum aus, und in Anbetracht der Umstände war es kein Wunder, dass Abendroth zustimmte.28 Er hatte wohl keine Alternative.
Einen Tag später wollten sich die deutschen Kämpfer selbstständig machen. Beneke plante: Mit … einigen anderen arbeite ich an der Errichtung eines FreywilligenCorps. Der wiedererwachende ritterliche BürgerGeist des mannhaften MittelAlters will sich nicht mit dem erbärmlichen SpiesBürger, und PhilisterWesen der (in Saft, und Blut verdorbnen) BürgerWachen amalgamiren.29 Dann legte er sich ein Schwert aus dem Theaterfundus zu. Direktor Herzfeld vom Schauspielhaus am Gänsemarkt hatte das genehmigt. Einen Tag später, am 26. Februar, stieß Jonas Ludwig von Heß zu den Freiwilligen, die sich nunmehr als Reserve der Bürgerwache definierten.30 Aber noch ein paar Tage später löste sich diese Reserve schon wieder auf. Die öffentliche Meinung war dagegen, Beneke hatte nicht damit gerechnet.31 Es hagelte Vorwürfe. Opposition gegen die alte Bürgerwache, erbosten sich die einen, Schutztruppe für die französische Stadt, die anderen. So hatten die Vaterlandsfreunde sich das nicht gedacht. Sie waren in die Klemme geraten.
Maire-Bürgermeister Abendroth sah das ganz anders. Ihm stand eine neue Revolution vor Augen, das Ende der bürgerlichen Ordnung, das Bündnis der Nationalen mit der Anarchie der Straße, diesmal nicht in Paris, sondern in Hamburg: Es war nur die Alternative, ob man, wie früher in Paris, alle Greuel der Revolution durchgehn wollte (denn daß v. Heß nicht der Mann war, das einmal losgelassene Volk wieder zu bändigen, ist unbezweifelt), oder ob man mit Ruhe Veränderungen machen wollte.32 Heß würde in Kürze das ganz große Wort bei der Bürgerbewaffnung führen. Abendroth hingegen setzte sehr zivil auf Arbeitsbeschaffung – den Klassiker der Sozialpolitik des Kaiserreichs, auch in der Hamburger Republik vor und nach der Réunion gerne zur sozialen Beruhigung eingesetzt. Dem Maire erschien sie plus nécessaire que jamais pour calmer les esprits dans un moment ou l’ouvrage manque.33 Zusammen mit Johann Michael Gries, dem Ex-Syndikus und nunmehrigen Generalsekretär der Präfektur, organisierte er in aller Eile Straßenbauarbeiten. 15.000 Francs wurden dafür ausgegeben.34 Für die Sparer der Mittelklasse ließ er Anfang März die Auszahlung von Zinsen der öffentlichen Schuld ankündigen.35 Noch ein Schritt, pour calmer les esprits. Es half nicht, dass der Präfekt vor lauter Sorge verrückt geworden war, sa tête en a souffert, sein Kopf hatte gelitten, wie der Maire es bedauernd ausdrückte.36
Die Zeit war wild – aber, schrieb Bürgermeister Bartels Jahre später, als er sich wieder beruhigt hatte, sie war auch eine höchst interessante, und ward es noch mehr durch das besonnene Benehmen der bessern Einwohner, aber zu leugnen ist es nicht, daß Maire und Municipalität sich in einer peinlichen Lage befanden.37 Das konnte man wohl sagen. Jetzt kam es zu persönlichen Angriffen, die Maire und Municipalität als französische Behörden verschrieen, um die man sich gar nicht mehr zu bekümmern habe. Doch war es ihre Pflicht, so erklärte Bartels, und mit Pflicht reklamierte er aufgeklärten Heroismus für Maire und Munizipalrat, so lange es gehen wollte, ihre Bemühungen zur Aufrechterhaltung der Ordnung, und zur Verhinderung der Anarchie fortzusetzen: und es ist ihnen dies Wagestück um so besser gelungen, da man in ihre Persönlichkeit einiges Vertrauen setzte, und sie durch die bessern Bürger kräftig unterstützt wurden.38 Die Erhaltung der Ordnung wurde dadurch nicht leichter, dass sich militärische Einheiten näherten – die Russen standen vor den Toren.
Die Abkürzungen StAHH, StAB und StACux beziehen sich auf Bestände der Stadt- und Staatsarchive von Hamburg, Bremen und Cuxhaven; die Fußnoten auf die Literaturliste.
Beneke: Tagebücher, 30.6.1812.
StAHH, Ministerium III B Band 46 1812, Abendroth an Rambach, 22.10.1812.
Vidalenc: Départements, S. 432.
Vidalenc: Départements, S. 435.
Beneke: Tagebücher, 13.11.1812.
Beneke: Tagebücher, 19.11.1812.
Beneke: Tagebücher, 20.11.1812.
Beneke: Tagebücher, 30.1.1813.
Mistler: Hambourg, S. 460. … Sängern, die Liedchen gegen die Wehrpflicht von sich geben.
Schama: Patriots, S. 624f.
Schama: Patriots, S. 628f.
Schmidt: Hamburg, Teil 1, S. 690.
Beneke: Tagebücher, 24.2.1813.
Beneke: Tagebücher, 24.2.1813.
Beneke: Tagebücher, 24.2.1813.
Rist: Lebenserinnerungen, Bd. 2, S. 161.
Abendroth: Antwort, S. 15.
Schmidt: Hamburg, Teil 1, S. 727.
StAHH, Senat Cl I Lit Pb Vol 8g Fasc 160d, Abendroth an Montalivet, 25.2.1813. Es war absolut nur die Canaille, die die Schwierigkeiten verursacht hat.
StAHH, Senat Cl I Lit Pb Vol 8g Fasc 160d, Abendroth an Montalivet, 25.2.1813. … es war nötig, mit lebhafter Gewalt gegen sie vorzugehen.
StAHH, Senat Cl I Lit Pb Vol 8g Fasc 160d, Abendroth an Montalivet, 25.2.1813. Ich hoffe, dass dieses Ereignis … das Wohlwollen, das Eure Exzellenz für die Stadt und für mich gehabt hat, nicht vermindern wird, und dass Sie hinsichtlich des Berichts, den Sie davon wahrscheinlich Seiner Majestät dem Kaiser vorlegen, dieses Ereignis mit Nachsicht behandeln werden, dem die Hamburger mit Sicherheit zum Opfer hätten fallen können, wenn nicht energische Maßnahmen diese Momente des Aufruhrs sofort unterdrückt hätten.
Poel: Hamburgs Untergang, S. 11f.
Hamburgischer Correspondent, 23.2.1843.
Poel: Hamburgs Untergang, Kommentar Abendroths, S. 15.
Beneke: Tagebücher, 24.2.1813.
Poel: Hamburgs Untergang, Kommentar Abendroths, S. 12.
Beneke: Tagebücher, 24.2.1813
Beneke: Tagebücher, 24.2.1813.
Beneke: Tagebücher, 25.2.1813.
Beneke: Tagebücher, 26.2.1813.
Beneke: Tagebücher, 3.3.1813.
Poel: Hamburgs Untergang, Kommentar Abendroths, S. 14f.
StAHH, Senat Cl I Lit Pb Vol 8g Fasc 160d, Abendroth an Montalivet, 15.3.1813. … notwendiger den je, um die Geister in einem Moment, in dem es an Arbeit mangelt, zu beruhigen.
Schmidt: Hamburg, Teil 1, S. 732.
Stubbe da Luz/Wurm: ‚Hamburg‘, Bd. 2, S. 91f.
StAHH, Senat Cl I Lit Pb Vol 8g Fasc 160d, Abendroth an Montalivet, 15.3.1813.
Bartels: Abhandlungen, S. XVII.
Bartels: Abhandlungen, S. XVIIf.


