41. Kaiserliche Karrieren, nationale Apokalypse
Abendroth wird Maire, Bartels Gerichtspräsident, Dr. Beneke will nicht – und muss doch
1811 stand Hamburgs politische Elite vor der Frage, ob sie für das napoleonische Kaiserreich arbeiten wollte. Viele zögerten nicht lange – denn über die Zukunft, so schien es, entschied Paris.
Dies ist Teil 41 der Aufklärung in Hamburg: Johann Heinrich Bartels, Amandus Augustus Abendroth, Ferdinand Beneke und die Verbesserung ihrer Republik 1790–1835, which you can also read in English. Die Einleitung beschreibt, worum es geht, und wer einen Überblick über die bisher veröffentlichten Kapitel haben möchte, klickt bitte hier.
Wie präsentierte sich der Staat in den neufranzösischen Departements? Auf seiner Reise an den Rhein und in die Niederlande hatte Ferdinand Beneke 1801 in Köln das alte Rathaus besucht, nunmehr Residenz des Conseil municipal. Der Kontrast zwischen den flämischen Tapisserien in den mittelalterlichen Sälen und dem zweckmäßig möblierten Beratungszimmer des Maires war auffallend. Ueber der Thüre stand: dem öffentlichen Wohl gewidmet. Ueber dem Sitze des Maires standen die ergreifenden Worte: Es kann keiner ein guter Bürger seyn, der nicht auch ein guter, Gatte, Vater, Sohn, Bruder, und Freund ist … Die Büsten von Cato, Rousseau, Bonaparte u.a. aus Bronze standen zur Seite.[1] Die französische Republik, ziemlich korrupt und nicht mehr lange Republik, pries die Tugend in Form eines Gesamtkunstwerks. Die Herren des Conseils waren wahrscheinlich etwas eingeschüchtert, denn die hohen Sinnsprüche riefen ihnen auch bei Diskussionen um die Wasserversorgung ins Gedächtnis, was die Republik, ja was die Menschheit von ihnen zu erwarten hatte.
In Hamburg war es Ende 1810 so weit, die Republik hatte sich unterdes in ein Kaiserreich verwandelt, der hohe Anspruch war geblieben. Das alte Rathaus erlitt jedoch eine Demütigung. Es wurde zur Lottozentrale. An der Stelle, wo Bürgermeister und Oberalte sich gegenübergesessen hatten, standen jetzt die Lottozahlen wie auf einem Hochaltar. Waisenkinder zogen sie unter Trompetenfanfaren, Menschenmassen drängten sich. Die Leute spielten, als gäbe es kein Morgen, für 3 Millionen, 4 Millionen Francs im Jahr.[2] Vielleicht war doch etwas dran an den aufgeklärten Sorgen über das moralverpestende Lotto.[3] Beneke sah das mittlerweile differenzierter und vergoss eine Träne – über das entweihte RathHaus, diese Wiege deutscher Freyheit einst – nun bald giftig zerstörender Spielleidenschaft TummelPlatz.[4] Die neue Munizipaladministration siedelte sich im Stadthaus am Neuen Wall an, an der Spitze Amandus Augustus Abendroth, der sich mit Entweihungen nicht lange aufhielt.
Im Mai 1811 ernannte ein kaiserliches Dekret aus St. Cloud den Ritzebütteler Amtmann Senator Abendroth zum Bürgermeister-Maire von Hamburg. Es stand im Moniteur.[5] Die Ernennung war für ihn unter den gegebenen Umständen, die er sich vielleicht nicht ausgesucht hatte, die aber nun einmal so waren, wie sie waren, erfreulich und höchst ehrenvoll. Erfreulich nicht zuletzt, weil sie sein bürgerliches Leben und Überleben sicherte. Er hatte bei Staatsrat Chaban diskret auf die prekäre Lage des Familienvaters hingewiesen und gab dem Chef der französischen Zivilverwaltung nicht undeutlich zu verstehen, dass er bereit wäre, Verantwortung zu übernehmen, je ne demande rien pour moi, quoique ma situation m’excuserait surement, si moi le père d’une famille nombreuse le souhaitrait de voir fixé son sort.[6] Chaban verstand, und im April war unter ihnen gesprächsweise die Rede von der Beförderung zum Maire.[7] Es entwickelte sich ein gutes, entspanntes Arbeitsverhältnis. Staatsrat und Maire freundeten sich an. Tausend Grüße an Ihre Kollegen,[8] übermittelte Chaban im Juni 1812. Das richtete sich an Abendroth und seine Mitdeputierten im Corps législatif. Die französische Sprache kannte steifere und distanziertere Formeln. Der Franzose Chaban befand sich übrigens gerade in Hamburg, der Hamburger Abendroth in Paris, es sah nach wachsender imperialer Einheit aus, nach opérer la fusion.
Das Corps législatif war der nächste Karriereschritt. Der Moniteur meldete die Ernennung des sieur Abendroth (Amand-Auguste) zum Mitglied des französischen Parlaments im April 1812.[9] Den Ausschlag gab der starke Mann Hamburgs, Marschall Louis-Nicolas Davout, Prinz von Eckmühl. Abendroth zweifelte nicht eine Sekunde, dass er es war, der die Entscheidungen traf, sie zumindest dem Kaiser so vorlegte, dass sie nach Wunsch ausfielen: Bey der leidenschaftlichen Anhänglichkeit des Herrn Marschalls an den Kayser, bey dem Zutrauen was der Kayser ihm wieder bewieß, musten die zur Regierungscommißion gehörenden Staatsräthe, Chaban und Faure, selbst äuserst vorsichtig seyn, da es dem Herrn Marschall, der ohne die Concurrenz der Minister in Paris die Länder der frühern 32sten Militär-Division allein beherrschte, sehr leicht war, einen kayserlichen Befehl oder Decret sich zu verschaffen.[10] Also präsentierte Abendroth sich dem Marschall als Mann des Kaiserreichs, vorurteilslos, kenntnisreich und kritisch loyal, in jedem Falle engagiert und geschäftlich auf dem Laufenden.
Es war der richtige Zeitpunkt. Gouverneur Davout war auf der Suche nach verlässlichen Mitarbeitern für das Regime, populär vor Ort und von kaisertreuer Gesinnung. Er hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, die führenden Klassen der neuen Departements an Napoleon zu binden. Vielleicht erinnerte er sich jetzt an die Geschenke der Bürger von Berlin. Hier gab es einen vielversprechenden Fall. Abendroth spielte seine Karten aus und schickte Briefe – mit gutem Erfolg. Der Marschall war angetan und antwortete postwendend: Je les ai lues avec beaucoup d’intérêt, parce que j’y ai vu un très bon esprit et que Vous justifiez tous ce que j’attendais de votre caractère. J’ai mis beaucoup de prix à acquérir à notre Souverain, un homme qui avait mérité l’estime de ses concitoyens dans ses différentes charges, et qui jouissait d’une excellente réputation sous le rapport du caractère et de la moralité. Je mettrai toujours au membre de mes devoirs, celui de faire remarquer à l’Empereur, vos services et votre zèle, et les circonstances où vous en donnez des preuves.[11] Ich werde es immer zu meinen Pflichten zählen, den Kaiser auf Ihre Dienste und Ihren Eifer aufmerksam zu machen. Mehr konnte der Ex-Senator eines Kleinstaats von fragwürdigem Gewicht in der Weltpolitik nicht erwarten. Er war im Zentrum der Macht angekommen. In Hamburg wusste man, was man an ihm hatte. Abendroth … ist, wie ich glaube, ganz an seinem Platz,[12] war von Leuten zu hören, die es wissen mussten.
Es gab Grund zum Optimismus, und man konnte auch ein wenig stolz sein. Monsieur le Maire kaschierte das manchmal hinter humoristischer Tiefstapelei, so in einer Note an den Senior Johann Jakob Rambach, den er auch Ende 1812 immer noch als den Chef aller Kirchen des vormaligen Hamburger Territorii ansprach. Nicht so ist es mir, dessen Wirkungskreis nach der neuen Verfassung auf die Stadt und deren Vorstädte beschränkt worden ist.[13] Dass er aber auf kleinerem Territorium mehr bewirken konnte, war auch nicht zu verachten. Abendroth überging das taktvoll.
Es gab jedoch Probleme. Die Maires der großen Städte des Kaiserreichs stiegen über ihr Amt in den noch frischen Reichsadel auf, sie wurden Barone, allerdings nur, wenn sie ein eigenes jährliches Einkommen von mehr als 15.000 Francs nachweisen konnten.[14] Ein Gehalt gab es nicht. Da lag das Problem, und es spielte nicht nur auf dieser Ebene eine große Rolle bei der Annäherung der alten Eliten an das neue Regime. Aus den Hansestädten hat sich fast niemand gemeldet, hieß es Anfang 1811 über die allgemeine Lage. Nicht etwa wegen nationaler Vorbehalte, sondern weil man über die Gehalte nichts erfährt und befürchtet, daß sie nicht hinlänglich sein werden davon zu leben.[15] Johann Heinrich Bartels, der seine Gehaltsverhandlungen sehr offensiv zu führen pflegte, forderte gleich in der zweiten Sitzung des provisorischen Conseil municipal im Februar 1811 Zulagen. Befremden bei Präfekt und Staatsrat.[16]
Abendroth konnte praktisch gar kein Einkommen nachweisen, ganz zu schweigen von 15.000 Francs. Mit dem Baron wurde es nichts. Die Lage war unangenehm – an und für sich und im Vergleich mit einigen Administratoren, die die Zentrale an die Elbe schickte. Präfekt Patrice de Coninck-Outrive war reich, 60.000 Gulden Jahreseinkommen wusste der Stadtklatsch,[17] dazu kam sein reguläres Gehalt als Präfekt von 40.000 Francs.[18] Er konnte es sich leisten, die elegante Villa der Madame Flemmich am Schlump zu mieten.[19] Abendroth brauchte also ein Gehalt. Ohne Geld keine Ernennung, das war die Realität des Bürgerlebens für Beamte ohne größeres Vermögen. Zum Glück zeigte sich das Pariser Innenministerium einsichtig. Der neue Maire-Bürgermeister erhielt ein Honorar von 12.000 Francs, etwa 8.000 Mark, pro Jahr aus der Kasse der Commune Hamburg – mehr, als er als Senator verdient hatte. Er arbeitete und wohnte mitsamt der ganzen Familie im Stadthaus, dem nunmehrigen Hotel de la Mairie.[20] Das entspannte seine finanzielle Lage noch einmal und zur Arbeit war es nicht weit. Aber so viel Geld waren 8.000 Mark auch wieder nicht. Der dänische Gesandte brauchte gut 20.000 Mark jedes Jahr für seinen Haushalt.[21]
Den Freunden von Reform und Fortschritt bot die kaiserliche Bürokratie ein weites Feld für persönliches Avancement und aufgeklärte Verbesserung der Lage ihres Gemeinwesens. Die Demonstration von Loyalität war unerlässlich für das Wohlwollen der Zentrale. Die Bürger und ihre Repräsentanten waren gut beraten, an diesem Punkt nicht allzu zurückhaltend zu sein. Der Moniteur ermunterte zur Freigiebigkeit für Kaiser und Reich. Maire Abendroth und sein Conseil hatten die Zeichen der Zeit ohne Zweifel verstanden, wenn sie Anfang 1813 die freiwillige Finanzierung einer Hundertschaft Reiter für die schwer kämpfende kaiserliche Armee anboten.[22] Präfekt de Coninck-Outrive, ein redlicher und wohlwollender Mann,[23] so Abendroth und so ähnlich übrigens auch Kollege Bartels,[24] hatte diskret darauf hingewiesen, dass zu wenig einen schlechten Eindruck hinterlassen würde. Die Hamburger Ziviladministration konnte sich auf den Präfekten verlassen. Er war einer, der alles beyzulegen, alles zu besänftigen suchte, so Abendroth im Rückblick.[25] Sein Rat war unbezahlbar. Andererseits war sein Verhältnis zu Davout so schlecht, dass manchmal auch der beste Rat nichts half. Bürgermeister-Maire Abendroth bemerkte ziemlich schnell, dass der kooperative Präfekt, so lange der Prinz in Hamburg war, in einer genirten Lage sich befand.[26]
Es empfahl sich eine gewisse Bereitschaft zu bürokratischen Grabenkämpfen. Da war dieser Generaldirektor der Polizei, Louis-Philibert d’Aubignosc. Er hatte den Ägyptenfeldzug mitgemacht, in Hamburg fielen die Bekämpfung des Schmuggels und die Überwachung der öffentlichen Meinung in sein Ressort. Die gegenseitigen Sympathien hielten sich in Grenzen. Abendroth versuchte, die Polizei finanziell auszutrocknen, soweit es in seinen Möglichkeiten als Bürgermeister lag. Aubignosc beschwerte sich in Paris, aber auf Innenminister Montalivet war Verlass. Der schrieb in einem kritischen Augenblick über Abendroth an Napoleon: Er ist sehr fähig, seiner Verwaltung hingegeben, bestens über die Interessen seiner Stadt im Bilde, in der Lage auch in größerem Rahmen zu denken. Sämtliche Berichte des Präfekten haben mir ihn als treuen Untertan dargestellt.[27]
Montalivet übrigens war gut informiert über die Lage in Norddeutschland. Er war bekannt mit Charles de Villers, einem Freund Dr. Meyers von der Patriotischen Gesellschaft, der sich um die deutsch-französische Annäherung vielfach verdient gemacht hatte. Er verteidigte ihn bei Napoleon gegen die Nachstellungen Davouts, der sich über Villers’ kritische Bemerkungen zur Rolle der französischen Armee bei der Eroberung Lübecks im November 1806 schwer geärgert hatte.[28]
Verbesserungen in Hamburg erforderten Präsenz in der Hauptstadt. Die kaiserliche Regierung lud dazu ein, und die frisch annektierten Neufranzosen waren gut beraten, die Chance für sich und ihr Gemeinwesen zu nutzen. Gefragt waren Sachkenntnis und Offenheit, montrez et dites la vérité, zeigen und sprechen Sie die Wahrheit, empfahl Staatsrat Chaban dem Hamburger Maire-Bürgermeister Abendroth.[29] Die Pariser Administration wollte reformieren und brauchte dafür die Kenntnisse der Beamten vor Ort. Keine Schönfärbereien also, die Wahrheit bitte, das lag nicht nur im Interesse des neuen Staates und des Fortschritts, sondern auch im Interesse der Departements an Elbe und Weser. La connaissance que vous avez des affaires vous donnera facilité pour répondre aux renseignements que le Gouvernement désire.[30] Je mehr wechselseitiges Vertrauen, desto besser, il faut le consulter franchement, so Chabans Tipp für den Umgang mit Seiner Exzellenz, dem Herrn Innenminister Montalivet, cette marque de confiance ne peut que lui être agréable.[31] Das musste er Maire Abendroth nicht zweimal sagen.
Im Mai 1811 reiste die Hamburger Delegation nach Paris. Im Wagen saßen Ex-Senator Abendroth, Ex-Senator Johann Heinrich Bartels und Ex-Kämmereipräses Georg Knorre – der ehemalige Finanzminister der Republik. Das Ex war immer noch beunruhigend. Die Fahrt versprach mit etwas Glück und Wendigkeit auf dem Pariser Parkett aber auch neue Chancen. Die Dinge waren gerade sehr im Fluss. Abendroth und seine Kollegen repräsentierten die gute Stadt Hamburg bei der Taufe des Königs von Rom. Die Nachricht von der Geburt des kaiserlichen Thronfolgers hatte Hamburg via Telegraf bis Brüssel und von dort per Kurier erreicht.[32] An der Alster folgten Kanonendonner und ein Ball für 700 Personen. Es wurde bis vier Uhr morgens getanzt, berichtete der Pariser Moniteur.[33] Dann brach die Delegation auf.
Die Fahrt in die Hauptstadt Europas führte durch die Dörfer des hannoverschen Landes, wo die Reisenden noch einmal einen ernüchternden Einblick in die Rückständigkeit der Verkehrsverhältnisse nehmen konnten. In ole Tid wöör de Weg von Will över Eggersmöhl un denn wieder up Visselhööw, de noch hüdigendaags ‚Postweg‘ nöömt ward un de an Fintel vörbi midden dörch de Osterheid löppt, een Hauptverkehrsstraat.[34] Genau diesen Weg nahmen auch die Parisfahrer. Er führte über Welle, Visselhövede, Rethem nach Nienburg und es dauerte ewig und einen Tag.[35] Die Ingenieure von Ponts et Chaussées standen schon für neue Schnellstraßen bereit, noch aber ging es langsam – schlechte Wege, unbequeme Fahrzeuge und eine Gastronomie, die den Ansprüchen bürgerlicher Bequemlichkeit nicht gewachsen war.[36] Auch die Dörfer – das kleine Tewel bestand zur Hälfte aus Heide – hatten von mehr Produktivität noch nicht viel gesehen.[37] Konnte bei diesen Verbesserungen das Kaiserreich nicht die Initiative ergreifen? Wahrscheinlich hatte Freund Dr. Meyer ja von seinen vorzüglichen Erfahrungen mit französischen Diligencen und Gasthäusern berichtet. Der Tisch ist gedekt, der Milchkaffé brodelt am Feuer, das Bette ist gemacht.[38] Es war eine Freude über Land zu fahren.
Dr. Bartels allerdings reiste mit gemischten Gefühlen. Ich fuhr nach Paris, weil ich die Hoffnung hatte, zum Wohl derselben – der Stadt Hamburg – in Paris wirken zu können. Ich traute der Napoleonischen Regierung mehr guten Willen zu, als sie je gehabt hat.[39] Er schrieb das 1815, nach der Katastrophe. Zuvor traute er dem Regime offenbar mehr zu und glaubte an Reformen und Verbesserungen.
Vor Ort ließ man sich in neuester Technik porträtieren. Abendroth besuchte das Studio Quenedey, wo versierte Künstler ein Physionotype, eine Art von früher Fotografie, von ihm anfertigten.[40] Es zeigt einen entschlossenen Menschen mit markanter Nase und aufmerksamen Augen, die Haare frisch frisiert, kurzgeschnitten, an den Schläfen schon etwas rückläufig, von einer gepuderten Perücke nichts zu sehen. Der Herr war bereit zum Empfang beim Kaiser und zum gedeihlichen geschäftlichen Kontakt mit den Ministern.
Die Audienz beim Monarchen ließ auf sich warten. Davout machte Druck bei Innenminister Montalivet. Abendroth, Bartels und Knorre sollten endlich Gelegenheit erhalten, dem Kaiser ihre Treue und Ergebenheit zu erweisen.[41] Sie selbst hätten das sicherlich so nicht bezeichnet, ohne Zweifel aber war es ein symbolisches Zeichen der Union Hamburgs mit dem Kaiserreich. Wenn die Zukunft aussah, wie in diesem Augenblick zu vermuten, gab es nichts Zweckmäßigeres, als sich im Zentrum der Macht als Repräsentanten einer der größten Städte des Imperiums vorzustellen und dann auf der Sachebene daraus den größtmöglichen Nutzen zu ziehen. Am 9. Juni war es so weit. Vormittags um 11 empfing Napoleon in den Tuilerien die Vertreter der Städte. Innenminister Montalivet postierte sich hilfreich im Saal, um den Kaiser auf die Hamburger aufmerksam zu machen. Aber die ungeheure Menge von fast 1200 Menschen in den Gemächern Seiner Majestät hat es nicht zugelassen, einen günstigen Moment zu finden, Seiner Majestät unsere Dankbarkeit auszudrücken,[42] berichtete Abendroth eine Woche später an Davout. Das war etwas enttäuschend, aber immerhin hatte er die Gelegenheit, den Kaiser aus nächster Nähe zu beobachten.
Dabei zeigte sich allerdings ein Charakterzug von Kaiser und Reich, der eher beunruhigte. Was Abendroth sah und hörte, hatte mit Sachebene nicht eben viel zu tun. Es regierte der unbedingte, eiserne Wille, die Entschlossenheit gegen alle Widerstände zu befehlen. Nach Beispielen brauchte man nicht lange zu suchen. Eine Stadt war nur mit gewaltigem Aufwand zu halten? Ausreden. Der Kaiser befahl sie mit wenig Aufwand zu verteidigen. Je veux, sagt die Majestät, ich will – und es geschah. Ces résultats, je veux les obtenir cette année, avec la seule dépense de deux à trois millions, … et une simple garnison de six mille hommes.[43] Es war Napoleons Befehl zur Verteidigung Hamburgs 1813/14. Als Abendroth und seine Kollegen dem Kaiser in den Tuilerien vorgestellt wurden, lag das in weiter Ferne. Niemand konnte es voraussehen. Aber laut und deutlich, für jeden und in jedem Zusammenhang zu hören war auch dort schon: je veux. Abendroth sah in diesem Brief Napoleons an Davout die Signatur des Regimes. Wer Napoleon gesprochen, oder in Paris hat würken sehen, kennt ihn darin ganz wieder.[44] Und er hatte ihn selbst in Paris gesehen und gehört.
Vielleicht konnte die Kaiserin Marie Louise für etwas mildere Stimmung sorgen? Sie empfing die Delegationen der Städte. Denk an Deutschland hatten die Bürger Badens auf einen Ehrenbogen geschrieben, den die zukünftige Kaiserin aus dem Hause Österreich auf ihrem Weg nach Paris passierte. Auf der anderen Seite der Rheinbrücke hieß es Pour le bonheur du monde.[45] Wenn man es sehr klug anstellte, konnte man über gute Beziehungen zur hohen Frau eine Privataudienz bei Napoleon erreichen und sein Land retten. Das gelang 1807 Pauline, der Fürstin zur Lippe, die sich gut mit der holden Kaiserin Joséphine verstand, Napoleons erster Frau.[46] Wahrscheinlich tauschte sich Pauline mit ihrem Freund Abendroth über diese aufregenden Erinnerungen aus, als sie 1818 in Ritzebüttel an der Elbe zur Kur weilte. Für ihn allerdings lag so viel kaiserliche Gunst außer aller Reichweite.
Den geschäftlichen Kontakt dann knüpfte Montalivet – freundlich, entgegenkommend und ganz im Interesse seiner norddeutschen Gesprächspartner. Auf dieser Ebene hörte die französische Administration zu, sie sagte nicht nur je veux. Es war eine Reformkonversation auf Gegenseitigkeit. Ein paar Jahre zuvor hatte auch Caspar Voght das feststellen können. Voghts Analyse der Hamburger Armenanstalt schickte der französische Innenminister 1808 an alle Präfekten. Sie sollten daraus lernen.[47] Diese Administration wollte reformieren und verbessern. Der Innenminister war Gewerbeförderer, als Direktor der Régie des Ponts et Chaussées intimer Kenner großer Infrastrukturprojekte und erfahrener Lokalpolitiker, ein Mann, wie ich ihn jedem Staate wünsche,[48] schrieb Abendroth über diesen Partner in Sachen Fortschritt. Zuvor war er unter anderem Maire von Valence und Präfekt von Seine-et-Oise, einem der wichtigsten Departements des Reiches. Es lag in unmittelbarer Nähe von Paris. Er schickte eine Einladung zum Diner in Abendroths Hotel an der Rue de Richelieu, eine der fashionabelsten Straßen von Paris.[49]
Ende Juni 1811 präsentierten die Hamburger Delegierten Montalivet ihre Wünsche. Im Zentrum stand der Kampf gegen die Wirtschaftskrise. Abendroth, Bartels und Knorre forderten die komplette Integration in das imperiale Handelssystem, gingen also von einer Zukunft der Stadt im Rahmen der neuen französisch-europäischen Ordnung aus, auf die sie sich auch wirtschaftlich einzustellen hatten. Das war zu diesem Zeitpunkt nur realistisch und längere Zeit auch schon in anderen Teilen Europas zu hören. Johannes Goldberg, der erste Wirtschaftsminister der Batavischen Republik, hatte 1805 für die volle Eingliederung der Niederlande in das Kaiserreich plädiert und die Märkte des Grand Empire einer perspektivlosen Pseudo-Unabhängigkeit vorgezogen.[50] Es war also die Rede von Importerleichterungen für Baumwolle und Rohzucker, von Steuersenkungen für Tabakwaren – alles naheliegend, da Zuckersiederei, Baumwolldruckerei und Tabakverarbeitung zu den Hauptindustrien der Stadt zählten, wenn auch vielleicht nicht gerade mit 34.000 Beschäftigten, wie die Delegierten behaupteten.[51] Dieses Ansinnen war nicht sehr realistisch. Norddeutschland gehörte zum Kaiserreich, um das Kontinentalsystem zu stärken, mehr Importe von Baumwolle und Rohzucker sahen stark nach dem Gegenteil aus. Ökonomisch waren die Forderungen für Hamburg, nunmehr Metropole des Kaiserreichs, vernünftig – genauso vernünftig übrigens wie für Bordeaux oder Le Havre. Die Logik des Wirtschaftskrieges gegen Großbritannien sprach dagegen. Aber trotzdem lohnte sich der Einsatz. Wo sie konnte und durfte, kooperierte die Pariser Zentrale. Wir waren viel weiter als die andern Städte. Das war die Ansicht des Maire Abendroth. Man gestand uns manches zu, was andern abgeschlagen wurde.[52] Aber natürlich nicht den Freihandel.
Kollege Bartels ließ sich ebenfalls physionografieren. Aber glücklich war er nicht. Bei ihm hinterließ der Parisbesuch im Frühsommer 1811 einen zwiespältigen Eindruck. Die Stadt war dem revolutionären Terror entkommen, konnte sich aber mit dem neuen Regime der Autorität nicht wirklich anfreunden: Frohsinn wie er sonst hier herrschte, schrieb er in sein Reisetagebuch, existirt nicht mehr – die Spuren der Revolution – die Furcht und Muthlosigkeit die sie zurükgelassen hat ist allenthalben sichtbar. … Es scheint als habe sie die Geisteskraft gelähmt, den lärmenden und leichtsinnigen Franzosen zum scheuen, stillen in sich gekehrten Menschen umgeschaffen. Sonst plauderte alles laut über Regierungssachen und Regierung – izt flüstert man mir seine Meinung heimlich ins Ohr, und sieht scheu umher ob es jemand merkt. Confidenzen aufgedrungen erregen immer Mistrauen, daher glaubt man sich bei solchen Menschen wie von Spionen der Polizei umgeben – und eilt von ihnen hinweg, ohne in ihre Ideen einzugehen.[53] Misstrauisches Abstandhalten und Distanzieren war genau das Gegenteil von dem, was Bürgermeister-Maire Abendroth tat.
Abendroth besuchte Paris im Sommer 1812 ein zweites Mal. Napoleon hatte die Parlamentsdeputierten der neuen Departements an Elbe, Ems und Weser in die Hauptstadt beordert, um die nächsten Schritte der Integration zu besprechen.[54] Der Maire nutzte die Gelegenheit, seinen Sohn Ernst zu treffen. Der war kaum 13 Jahre alt und wurde an der Seefahrtschule Brest zum Offizier der kaiserlichen Marine ausgebildet. Für Abendroth war der Besuch am Meer ein kleiner Urlaub. Im Vordergrund standen die Konferenzen in Paris mit den Kollegen aus Bremen, Lübeck und Lüneburg unter dem Vorsitz von Innenminister Montalivet. Besprochen wurde alles Mögliche, manches war überraschend. Man könne doch, ließen die Abgeordneten verlauten, in Hamburg, Lübeck und Lüneburg ein paar Polizeioffiziere einsparen. Auf die gesetzestreuen Bürger sei Verlass.[55] Einige Monate später hätte das kein Mensch mehr zu behaupten gewagt. Besonders Maire Abendroth nicht, der sich im Februar 1813 sehr unerwartet auf der Flucht vor randalierendem Hamburger Volk befinden sollte. Dazu später mehr. Im Augenblick war so etwas unvorstellbar. Alle rechneten mit bürgerlichem Frieden unter dem napoleonischen Szepter. Bürgerlicher Friede aber bedeutete nicht eben Konfliktlosigkeit. Zentrum und Peripherie stritten ums Geld: Die Finanzierung des Straßenbaus, die Senkung der Steuerlast, die Übernahme der lokalen öffentlichen Schulden, die Pensionszahlungen an die Beamten des alten Regimes, alles wurde von den norddeutschen Parlamentariern angesprochen.[56] Es wurde manchmal sehr speziell, unter anderem wurde des Budgets der Gemeinde Quakenbrück gedacht. Seine Exzellenz der Innenminister reagierte, wie viele Minister in vergleichbaren Situationen reagieren, nicht nur wegen des Budgets von Quakenbrück. Er verwies auf die Zuständigkeit anderer, des Finanzministers zum Beispiel.
Vielleicht erzeugte diese Gemengelage beim Deputierten Abendroth den Eindruck, im Parlament des Kaiserreichs in eine Sackgasse geraten zu sein. Im Palais Bourbon, jetzt hieß es natürlich Palais du Corps législatif, sah es zwar bedeutend aus, hinter dem Präsidenten stand eine Statue Napoleons als Gesetzgeber in Toga, von den Wänden grüßten goldene Adler und eroberte Standarten. Ein Besucher aus Hamburg fand es auch irgendwie schön, daß Männer von Ansehen aus allen Gegenden des Reiches zusammengerufen werden, um hin und wieder der öffentlichen Meinung einen gesetzlichen Ausfluß zu verschaffen.[57] Viel heraus kam dabei aber nicht. Vor Ort in Hamburg war mehr zu tun und es waren bessere und schnellere Ergebnisse zu erzielen. Dieser Maire war ergebnisorientiert. Ich habe mit der Organisation der Gemeinde Hamburg begonnen … und ich wage zu behaupten, daß in der Art und Weise, wie die französische Verwaltung hier zur Durchführung gelangt, große Fortschritte erzielt worden sind. Die Neuordnung der Dinge geht gut voran und weist tagtäglich neue Perfektionsgrade auf.[58] Für einen aktiven Verbesserer, der gerne selbst Hand anlegte, war es eine lohnendere Aufgabe. Abendroth beantragte seine Demission aus dem Corps und aus dessen Kommissionen, die viel beschriebenes Papier produzierten, aber letzten Endes doch am Gängelband geführt wurden. Anscheinend teilten seine Kollegen diesen Eindruck. Auch Georg von Meding, Mitglied aus Lüneburg, dispensierte sich von den Sitzungen und blieb im Lande.[59]
Für den Vaterlandsschwärmer Dr. Ferdinand Beneke war die Union mit Frankreich eine Katastrophe. Sie hatte etwas Kosmisches, etwas Apokalyptisches an sich: ein afrikanischer Sommer, die Natur aus dem Gleichgewicht, seltsame Wolkentürme am Himmel, Erdbeben in Deutschland – und dann ein Zeichen am Himmel. Der Komet mit seinem trüben Lichte, und seinem Drachenschweife drückte dem Ganzen das Gepräge des Feindselig-Fremdartig-Schauerlichen auf.[60] Abends wurde es unheimlich auf dem Wall und an der Alster. Es war der Komet Flaugergues, ein Zeichen, kein gutes, das Beste dahin, Gott und Glauben verraten, er selbst Christ unter Türken.[61]
Aber Kompromisse waren unvermeidlich, wenn Beneke in Hamburg bleiben wollte. Ihm stand eine Art innere Emigration bevor, Verbleib vor Ort, aber maximale Distanz zum Regime. Schließlich war er zuerst da, nicht Napoleon, das musste einmal gesagt werden: Ich räume ihm an meiner Seele keinen Teil ein, erkenne ihn auch nimmermehr an als rechtmäßigen Herrn unsers Volks, sondern nur als den Gewaltigen im Besitze, welchen Besitz ihm abzustreiten ich nicht berufen bin, und mich daher in weltlichen Dingen allen Folgen deßelben unterwerfe, – nicht aber in geistlichen, nicht in der Herrschaft über meine Seele und was damit eins ist, über meine innere Deutschheit.[62] Was die innere Deutschheit zulassen würde, musste sich zeigen.
Private Rechtsberatung schwebte Beneke vor, aber damit war kein Vermögen zu verdienen. Ein Kollege prophezeite viel Mühe, wenig Dank und eine schmale Küche.[63] Beneke wusste, dass das stimmte. Falls nicht, machte Schwiegervater Otto von Axen ihn darauf aufmerksam. Er sorgte sich um seine Tochter und versuchte ihrem Mann seinen unpraktischen und unproduktiven Boykott des französischen Systems auszureden.[64] Vielleicht lag es daran, dass Beneke mit seinem Schwiegervater nicht recht warm werden konnte. Unser Verhältniß mit dem schwiegerelterlichen Hause ist fortdauernd nicht so innig, als ich es so herzlich wünschte; Er vermutete Verschiedenheit der Naturen.[65] Hinzu kam, dass Axen, enger Freund Abendroths, bei dem von Innigkeit bekanntermaßen wenig zu spüren war, sich mit seinen Aufgaben als Maire adjoint mehr und mehr anfreundete.[66] Darüber konnte sich Beneke jetzt ernsthaft aufregen: Leute, die ihre Karrierepläne umgehend aktualisierten und dabei an Deutschheit zuallerletzt dachten.
Dazu gehörten ziemlich viele, Johann Ernst Friedrich Westphalen zum Beispiel, 1809 in den Senat gewählt und fest verankert in der Bartels-Abendroth-Axen Gruppe. Beneke schäumte über dessen unentschuldbare Charakterlosigkeit. Westphalen hatte Geld und war unabhängig. Er selbst, Beneke, hatte keins und antichambrierte trotzdem nicht bei Davout, dem Prinzen von Eckmühl. Westphalen hingegen schon. Welche Besuche er täglich bey dem Prinzen und den StaatsRäthen usw. mache, welche Stellen ihm bevorstehen, – von dergleichen hört man ihn izt mit der größesten Leichtigkeit, und der beßten Laune reden, – diesen Mann, der als Bürger, und Senator Hamburgs vorher den Patriotismus eines alten Römers affektirte. Aber nannte ich diesen nicht schon vorher Lokalismus?[67] Lokalismus sollte vernichtend klingen und alles abwerten, was den Aufklärern lieb und teuer war. Der aufgeklärte Patriot, der sich um die Verbesserung der Republik kümmern wollte und sollte, war ein nationaler Patriot geworden, ein deutscher Mann.
Die alten Maßstäbe der Vernunft und Verbesserung, praktischerweise anzuwenden vor Ort, wo man lebte, galten nicht mehr, so der steile Standpunkt Benekes, der jetzt überall Vorteilsmoral und Besitzstandssicherung ausmachte.[68] Besonders bei Westphalen, der dann aber sehr verdient in die allergrößten Schwierigkeiten kam. Der Zoll beschäftigte sich drei Tage lang mit Hausdurchsuchungen in seinen Geschäftsräumen.[69] Der Stadtklatsch wusste von hinterzogenen Waren über 200.000 Mark. Möglicherweise hatte er auch Marschall Bernadotte zu nahe gestanden, dem Prinzen von Pontecorvo und zukünftigen König von Schweden. Zu hören war, dass Davout, der oberste Chef aller Hamburger Angelegenheiten, derartige Verbindungen nicht schätzte. Westphalen tobte und stritt alles ab. Das hatte er davon.
Beneke hielt sich nach Plan zurück. Im August 1811 sollte er zum Friedensrichter ernannt werden. Beinahe hätte er eine sehr undiplomatische Ablehnung geschrieben, raffte sich dann aber doch zu etwas mehr Höflichkeit auf.[70] Dabei blieb es vorerst, höfliche Distanz für alle Fälle. Manchmal überwog die Höflichkeit. Er lud die Spitzen der Justiz – den Präsidenten des kaiserlichen Gerichtshofs de Serre, Generalstaatsanwalt Eichhorn und Kollegen – zum 4-Uhr-Mittagessen in sein Haus ein. Auch Dr. Bartels war dabei, der neue Kammerpräsident am Gericht: Politische Kombinazion, und Anerkennung seiner Gefälligkeit gegen mich geboten mir, ihn mit einzuladen.[71] Sympathie klingt anders. Kein Wunder, dass er auch der Munizipal-Administration keine besonders freundlichen Gefühle entgegenbrachte. Abendroth verglich er mit Herodes, was nur schwer als Kompliment zu verstehen war.[72] Aber das muss man vielleicht nicht allzu ernst nehmen. Im Dezember lehnte Beneke noch eine Wahl ab. Der Grund war immer der gleiche, aus redlichem Widerwillen gegen diese Regierung.[73] Es fiel langsam schwer, sich bei Eichhorn zu rechtfertigen. Die höflichen Floskeln gingen aus. Er tat dann das Unvermeidliche und schwor: Je jure obéissance aux Constitutions de l’Empire & fidélité à l’Empereur,[74] so stand es im Dokument, ich schwöre dem Kaiser Treue. Das stimmte aber nicht ganz. Tatsächlich nutzte er seine Auftritte vor Gericht jetzt für nationale Propaganda.
1811 landete der Sohn von Octavio Rudolf Schröder wegen Feindbegünstigung für einige Zeit im Gefängnis. In Hamburg wurden in diesem Zusammenhang mehrere Personen belangt, zum Teil verhaftet,[75] darunter Johann Diedrich Schuchmacher, der einst so viele Flaschen Burgunder auf die Revolution getrunken hatte.[76] Betrug und Bestechung, so lautete die Anklage. Der Prozess schlug hohe Wellen. Beneke übernahm die Verteidigung, er hatte Schuchmacher vor Jahren auf einer inspirierten Reise über den Rhein nach Neufrankreich begleitet. Die damalige Begeisterung hatte sich jetzt gelegt. Als Zeuge für Schuchmacher erschien auch Ex-Senator Westphalen. [77] Schuchmacher wurde freigesprochen, auch in zweiter Instanz.[78] Hier hatte Beneke seinen großen Auftritt. Er wollte Deutsch sprechen, Teutsch um genau zu sein.[79] Präsident de Serre geriet etwas in Verlegenheit. Er konnte Teutsch und übersetzte selbst. Beneke hatte es etwas hinterhältig darauf angelegt. Das Publikum war begeistert, wobei teutsche Fäuste eine gewisse Rolle spielten. Sogar Platt sprechende Teilnehmer beglückwünschten den neupatriotischen Rechtsanwalt. ‚Dat is doch noch’n Dütschen‘,[80] sagte einer. Beneke war zufrieden.
Diese deutsch-nationalen Demonstrationen hatten sich schon seit Jahren vorbereitet. Enttäuscht über die etwas philisterhafte Republik, hatte Beneke die Philosophie befragt und gut gelaunt Fichte entdeckt, den Jenaer Propheten des Ich. Nach einer halben Flasche Wein leuchtete ihm alles ein.[81] Allmählich wurde die Kritik an der freudlosen Gegenwart schärfer. Jetzt ging es gegen AufklärungsSucht und RunkelRübenPrediger.[82] Unter Letzteren hatte man sich in Sonderheit die Herren von der Patriotischen Gesellschaft vorzustellen, die ja für die verschiedensten Formen des Fortschritts warben, unter anderem auch für den Anbau von Runkelrüben. Es passte Beneke nicht mehr, er forderte jetzt poetische Erhebung.[83]
Die fand er in der Religion, im Sehnen des Herzens.[84] Die Vernunft war nicht mehr für den Glauben zuständig. Die Religion offenbarte sich dem inneren Menschen, erfüllte ihn und konnte auf den rationalen Beweis gut verzichten. An seine Stelle traten Phantasie und liebliche Mysterien.[85] So der religiöse Romantiker Beneke. Friedrich Schleiermacher war nicht weit, der die Religion als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit neu bestimmte. Die Sache aber war weder unbestritten noch unproblematisch.
Selbst im eleganten Salon kam es zu Zusammenstößen, bei Senator Andreas Christian Wolters zum Beispiel. Der war gerade bester Laune und dachte sich wahrscheinlich nicht viel dabei, als er konversationsweise den Sinn des Lebens herausarbeitete: verständigen und wohltemperierten Genuss nämlich. Von aufgeklärten Personen war das überall zu hören und nicht weiter bemerkenswert. Beneke hingegen war im Innersten verletzt darüber, so etwas aus dem Munde eines Christen zu hören. Der Senator überraschte dann mit der Eröffnung, er sei ja gar keiner. Fassungslosigkeit beim neuen Freund der Religion. Da erklärte er mir denn mit Worten, in welchen sich ein ungeheurer Dünkel, und eine mir kaum glaubliche Seichtigkeit kund gab, er habe geglaubt, unter gebildeten Männern unseres Zeitalters könne von dem Christenthum, ‚wie von allen positiven Religionen‘ nicht weiter im Ernst die Rede seyn … Mit tief verletztem Gemüthe verließ ich den unglücklichen Bruder, der mir doch wirklich ein wenig fremd vorkam, als er mir (nach diesem Gespräch!) mit kontrastirender Selbstbehaglichkeit seine prachtvoll möblirten Zimmer zeigte.[86] Dem aufgeklärten Senator war dieser Zwischenfall möglicherweise etwas peinlich, daher der Rückgriff auf die Innenausstattung. Dazu kam dann noch Benekes wilder Nationalismus: Napoleon als personifizierter Satan und Unterdrücker alles Guten, alles Deutschen und der wahren Religion.[87] Aus dem echten Republikaner war ein echter Deutscher geworden.[88] Und die Verbesserungen? Sozialpolitik, Code civil und Pockenprophylaxe, das war Runkelrübenaufklärung. Jetzt ging es um Christentum, Vaterland und Wehrpflicht.
Dann träumte er holde Träume von dem Glücke der Liebe, und aller meiner Geliebten, bald Scenen aus Ovids Verwandlungen, bald die köstlichsten Ideale von Gegenden, bald Sonnen, und Himmels Stücke, bald unbeschreibliche Gebilde meiner eigensten Phantasie, aus Erinnerungen, und Ahndungen zart gewoben, oder ganz neu in Stoff, und Idée.[89] Oft allerdings verweigerte der Traum das Glück. Was im alltäglichen Getriebe der Provinzstadt des Kaiserreichs fehlte, wünschte er sich für die Nacht: patriotische Offenbarungen. Sie kamen selten, wenn aber, dann mit tiefen Erschütterungen. Ein nächtliches Gesicht begann mit einem Besuch im Schloss des preußischen Königs. Was er suche, fragte der König Benekes Traum-Ich. Helden, antwortete es, und nach einer Wanderung durch dunkle Hallen, vorbei an Kirchenfenstern, über einen tiefen Abgrund öffnete der alte Kammerdiener eine Luke: Ein weiter, nebliger Platz voller Trümmer, Aufgang einer roten Sonne, Teilung der Nebel, eine Marmorgestalt, und an ihrem Fuße glühte in Sonnenstralen die goldne Inschrift Vaterland! Eine unbeschreibliche Rührung trat an die Stelle der Gedanken und mit heißen Trähnen – – – – – – wachte ich auf.[90] Das Jammertal des Kaiserreichs hatte ihn zurück.
Die Abkürzungen StAHH, StAB und StACux beziehen sich auf Bestände der Stadt- und Staatsarchive von Hamburg, Bremen und Cuxhaven; die Fußnoten auf die Literaturliste.
[1] Beneke: Tagebücher, 14.8.1801.
[2] Schmidt: Hamburg, Teil 1, S. 464f.
[3] Abendroth: Beleuchtung, S. 18.
[4] Beneke: Tagebücher, 28.6. und 1.7.1811, 12.9.1814, Zitat 28.6.1811. Das Jahrbuch für die hanseatischen Departements gab als Ziehungsort den großen Saal der kaiserlichen Lotterie in der Neustädter Fuhlentwiete 188 an. Wedekind: Jahrbuch, S. 224. Das war allerdings die Privatadresse von Dr. Bartels. Irrte sich das Jahrbuch?
[5] Le Moniteur, 22.5.1811.
[6] StAHH, Senat Cl I Lit Pb Vol 8g Fasc 160d, Abendroth an Chaban, 27.3.1811. … für mich verlange ich nichts, obwohl meine Lage mich sicherlich entschuldigen würde, wenn ich, der Vater einer zahlreiche Familie, es wünschen würde, seine Zukunft gesichert zu sehen.
[7] StAHH, Senat Cl I Lit Pb Vol 8g Fasc 160d, Abendroth an Chaban, 12.4.1811.
[8] Chaban an Abendroth, 19.6.1812, zitiert nach Stubbe da Luz/Wurm: ‚Hamburg‘, Bd. 2, S. 49f.
[9] Le Moniteur, 3.4.1812.
[10] Abendroth: Antwort, S. 12f.
[11] StAHH, Senat Cl I Lit Pb Vol 8g Fasc 160d, Davout an Abendroth, 3.4.1812. Ich habe sie mit großem Interesse gelesen, weil ich darin eine sehr gute Gesinnung gesehen habe und weil Sie alles bestätigen, was ich von Ihrem Charakter erwartet habe. Ich habe großen Wert darauf gelegt, für unser Souverän einen Mann zu gewinnen, der in seinen verschiedenen Ämtern die Achtung seiner Mitbürger erworben hatte und der in Bezug auf Charakter und Moral über einen exzellenten Ruf verfügte. Ich werde es immer zu meinen Pflichten zählen, den Kaiser auf Ihre Dienste und Ihren Eifer aufmerksam zu machen und auch auf die Umstände, in denen Sie davon Beweis abgelegt haben.
[12] Karl Gries an seinen Bruder Diederich, 18.8.1811, zitiert nach Reincke: Briefwechsel, S. 260.
[13] StAHH, Ministerium III B Band 46, Abendroth an Rambach, 27.11.1812.
[14] Fierro/Palluel-Guillard/Tulard: Histoire, S. 231.
[15] Karl Gries an seinen Bruder Diederich, 28.–30.3.1811, zitiert nach Reincke: Briefwechsel, S. 258.
[16] Schmidt: Hamburg, Teil 1, S. 457.
[17] Karl Gries an seinen Bruder Diederich, 28.–30.3.1811, zitiert nach Reincke: Briefwechsel, S. 257f.
[18] Stubbe da Luz/Wurm: ‚Hamburg‘, Bd. 1, S. 100.
[19] Beneke: Tagebücher, 24.8.1812.
[20] Stubbe da Luz/Wurm: ‚Hamburg‘, Bd. 1, S. 100 und 104.
[21] Rist: Lebenserinnerungen, Bd. 2, S. 126.
[22] StAHH, Mairie Hamburg, Munizipalratsprotokoll vom 22. und 23.1.1813; vgl. Stubbe da Luz/Wurm: ‚Hamburg‘, Bd. 1, S. 24f.
[23] Poel: Hamburgs Untergang, Kommentar Abendroths, S. 12.
[24] Bartels: Abhandlungen, S. XVI.
[25] Abendroth: Antwort, S. 19.
[26] Abendroth: Antwort, S. 19.
[27] Zitiert nach Schmidt: Hamburg, Teil 1, S. 479.
[28] Meyer: Darstellungen, S. 103f.; Delinière: Reinhard, S. 332–335.
[29] StAHH, Senat Cl I Lit Pb Vol 8g Fasc 160d, Chaban an Abendroth, 19.6.1812.
[30] StAHH, Senat Cl I Lit Pb Vol 8g Fasc 160d, Chaban an Abendroth, 19.6.1812. Ihre Kenntnis der Geschäfte wird es Ihnen leicht machen, die Informationen zu geben, die die Regierung wünscht.
[31] StAHH, Senat Cl I Lit Pb Vol 8g Fasc 160d, Chaban an Abendroth, 19.6.1812. … man muss ihn offen konsultieren, dieser Vertrauensbeweis wird ihm sehr angenehm sein.
[32] Rist: Lebenserinnerungen, Bd. 2, S. 131.
[33] Le Moniteur, 8.4.1811.
[34] Freudenthal: Meine Kindheit, S. 161.
[35] Diesen Weg empfahl auch das Jahrbuch für die hanseatischen Departements. Wedekind: Jahrbuch, S. 378.
[36] Vgl. dazu Günther: Erinnerungen, S. 15, die Heide wird den größten Theil ihrer peinigenden Langweiligkeit bald verlieren, wenn einst rasche Fuhren, schnellere Expedition und kürzere Stationen in die Stelle des izigen Schnecken-Ganges eintreten.
[37] StAHH, Familie Bartels Johann Heinrich Bartels III c, Tagebuch 15.5.1811.
[38] Meyer: Briefe, Bd. 2, S. 6.
[39] Bartels: Bericht, S. 14.
[40] Stubbe da Luz/Wurm: ‚Hamburg‘, Bd. 2, o. S.
[41] Stubbe da Luz/Wurm: ‚Hamburg‘, Bd. 2, S. 29.
[42] Abendroth an Davout, 19.6.1811, zitiert nach Wurm: Hamburg, Text bei Stubbe da Luz/Wurm: ‚Hamburg‘, Bd. 1, S. 231.
[43] Napoleon an Davout, 7.7.1813, zitiert nach Davout: Mémoire, S. 71.
[44] Abendroth: Anwort, S. 23.
[45] Poel: Bilder, Bd. 2, Abtlg. 1, S. 106.
[46] Tagebuch der Fürstin Pauline, 8.11.1807, zitiert nach Niebuhr: Fürstin, S. 89. Paulines Audienz fand am 14.11.1807 statt, Niebuhr: Fürstin, S. 93.
[47] Voght: Gesammeltes, S. 54.
[48] Poel: Hamburgs Untergang, Kommentar Abendroths, S. 63. Eigentlich steht da … ein Mann, wie ich sie jedem Staate wünsche. Abendroth schrieb manchmal ein etwas wildes Deutsch. Vor allem setzte er ungern Punkte. Die schienen ihn irgendwie aufzuhalten.
[49] Stubbe da Luz/Wurm: ‚Hamburg‘, Bd. 2, S. 30.
[50] Schama: Patriots, S. 612.
[51] Stubbe da Luz/Wurm: ‚Hamburg‘, Bd. 2, S. 32f.
[52] Poel: Hamburgs Untergang, Kommentar Abendroths, S. 12.
[53] StAHH, Familie Bartels Johann Heinrich Bartels III c, Tagebuch.
[54] Stubbe da Luz/Wurm: ‚Hamburg‘, Bd. 2, S. 46–50.
[55] Stubbe da Luz/Wurm: ‚Hamburg‘, Bd. 2, S. 51.
[56] Stubbe da Luz/Wurm: ‚Hamburg‘, Bd. 2, S. 51-58.
[57] Poel: Bilder, Bd. 2, Abtlg. 1, S. 113. Karl Sieveking schrieb es 1810 aus Paris.
[58] Abendroth an Montalivet, 9.1.1813, zitiert nach Stubbe da Luz/Wurm: ‚Hamburg‘, Bd. 2, S. 74.
[59] Beneke: Tagebücher, 19.2.1813.
[60] Beneke: Tagebücher, Jahresrückblick 1811, S. 190.
[61] Beneke: Tagebücher, 30.1.1811.
[62] Beneke: Tagebücher, 30.1.1811.
[63] Beneke: Tagebücher, 30.1.1811.
[64] Beneke: Tagebücher, 7.3.1811.
[65] Beneke: Tagebücher, Jahresrückblick 1811, S. 192.
[66] Beneke: Tagebücher, 25.8.1811.
[67] Beneke: Tagebücher, 25.3.1811.
[68] Beneke: Tagebücher, 12.3.1811.
[69] Beneke: Tagebücher, 3.7.1811.
[70] Beneke: Tagebücher, 20.8.1811.
[71] Beneke: Tagebücher, 30.9.1811.
[72] Beneke: Tagebücher, 5.6.1812.
[73] Beneke: Tagebücher, 27.12.1811.
[74] StAHH, Familie Beneke Ferdinand Beneke C 9, Vereidigung als Advokat vor der Cour Impériale, 9.11.1811. Ich schwöre Gehorsam den Verfassungen des Reichs und Treue dem Kaiser.
[75] Reincke: Briefwechsel, S. 261.
[76] Beneke: Tagebücher, 4.10.1811.
[77] Beneke: Tagebücher, 7.10.1811.
[78] Beneke: Tagebücher, 10.10.1811; 14.12.1811.
[79] Beneke: Tagebücher, 14.12.1811.
[80] Beneke: Tagebücher, 14.12.1811; Karl Hübbe berichtet, dass noch Mitte der 1820er-Jahre in den unteren Instanzen vielfach Plattdeutsch gesprochen wurde, wahrscheinlich also auch vor dem Polizeichef Abendroth. Hübbe/Plath: Ansichten, Bd. 1, S. 188f.
[81] Beneke: Tagebücher, 6.6.1801.
[82] Beneke: Tagebücher, 11.10.1805.
[83] Beneke: Ergüsse, S. 2.
[84] Beneke: Ergüsse, S. 5.
[85] Ferdinand an Caroline Beneke, 14.4.1814, Beneke: Tagebücher, Bd. III/5, S. 465.
[86] Beneke: Tagebücher, 10.6.1819.
[87] Beneke: Tagebücher, Jahresrückblick 1805.
[88] Beneke: Tagebücher, 11.6.1811.
[89] Beneke: Tagebücher, 30.3.1811.
[90] Beneke: Tagebücher, 10.10.1811.


