40. La Réunion – Hamburgs Vereinigung mit Frankreich
Wirklich erhielten viele der neuen Einrichtungen allgemeinen Beyfall
Die alte republikanische Ordnung konnte die Sicherheit des Eigentums und der Person nicht mehr garantieren. Senator Abendroth sah im Kaiserreich Napoleons eine Alternative – und er war nicht der einzige.
Dies ist Teil 40 der Aufklärung in Hamburg: Johann Heinrich Bartels, Amandus Augustus Abendroth, Ferdinand Beneke und die Verbesserung ihrer Republik 1790–1835, which you can also read in English. Die Einleitung beschreibt, worum es geht, und wer einen Überblick über die bisher veröffentlichten Kapitel haben möchte, klickt bitte hier.
Kurz vor Weihnachten 1810 erfuhr der Senat vom Entschluss des Kaisers, die Hansestädte und die norddeutschen Küstenregionen mit Frankreich zu vereinen. England sei nicht zum Frieden bereit und versuche, den Handel zu monopolisieren, deshalb könne Hamburg aus seiner Unabhängigkeit keinen Nutzen mehr ziehen. Seine wirtschaftliche Zukunft liege im europäischen Handel, so die kurze Begründung. Um dies zu unterstreichen, kündigte die französische Regierung den Bau eines Kanals entlang der Nordseeküste von der Ems über Weser und Elbe bis an die Ostsee an und versprach Großes: ein neues europäisches Handelssystem, das das alte transatlantische ablösen sollte. 15 bis 20 Millionen Francs sollte der Kanal kosten und in knapp fünf Jahren fertig werden.[1] Die Nachricht kam ohne Vorwarnung.[2] Was jetzt? Die Republik war am Ende, die letzte Bürgerschaft versammelte sich, Bürgermeister Wilhelm Amsinck sprach mit Tränen in den Augen, die Bürger dankten gerührt.[3] Man trauerte über das Verlorene, blickte sorgenvoll in die Zukunft und empfahl die Stadt dem Kaiser. Das öffentliche Leben war auf Moll gestimmt und späterhin erinnerte man sich dunkler Tage.
Aber nicht jeder. Der französische Generalkonsul Le Roy nahm eine viel kühlere, geschäftsmäßigere Reaktion wahr. An der Börse, wo gern die Panik regierte, blieb alles ruhig. Die Bürger würden sich auf Steuersenkungen und den Code Napoléon freuen, meinte er.[4] Das war möglicherweise die Fehleinschätzung eines französischen Funktionärs, der erst vor ein paar Tagen in der Stadt angekommen war.[5] Aber Anfang desselben Jahres hatte Karl Sieveking, der jüngste Spross der Sievekings und zukünftige Syndikus der Republik, geschrieben, wie auffällig sich in Straßburg Wohlstand und Prosperität ausbreiteten.[6] Konnte das nicht bedeuten, dass das Kontinentalsystem des Handels schon funktionierte? Und dann war da noch Professor Friedrich Gottlieb Zimmermann vom Johanneum. Er registrierte – Überraschung – eine Stadt, die mit dem neuen Stand der Dinge ganz zufrieden zu sein schien. Man sprach nur nicht gerne darüber. Wirklich erhielten viele der neuen Einrichtungen allgemeinen Beyfall, und nur die Abneigung gegen das Aufgedrungene und Fremdartige, bey anderen die sonst nicht zu tadelnde Vorliebe für die alte Verfassung, waren es, welche die Anerkennung nicht laut werden ließen.[7]
Der Moniteur jedenfalls brachte im März 1811 in großer Aufmachung auf Seite eins den Empfang der hanseatischen Delegation in den Tuilerien. SIRE, so wandte sich Hamburgs vormaliger Syndikus Doormann, der Präsident der Delegation, an den Kaiser und so war es im Moniteur zu lesen, de tous tems nous avons été Français par le coeur et par les préférences. Im Herzen waren wir immer schon Franzosen. Nun ja, das galt nicht für alle. Dann kam er auf die kommerziellen Erwartungen der Städte zu sprechen. Der Kaiser gab ihnen für ihren Handel sein europaweites Territorium. Si quelque chose manquait à notre activité, à notre industrie, à ce système de commerce qu’avoue la morale et la sagesse conseille …; si quelque chose enfin manquait à nos cités, à ces entrepôts de l’univers, c’était un territoire. Und das Wunderbare für die Städte war: Dieses Territorium gab ihnen der Kaiser. V.M. – Votre Majesté – leur donne pour territoire son Empire.[8] Der Kaiser erwähnte dann allerdings ziemlich schnell die Dekrete von Berlin und Mailand, den kommerziellen Krieg gegen England also. Das gab zu denken. Aber war die Réunion nicht doch eine Chance?
Und was hatte die Republik eigentlich verloren? Ihre Unabhängigkeit. Aber hatte sie die vorher überhaupt besessen? Die Realisten des Hamburger Politbetriebes hatten darauf eine sehr kurze Antwort: Nein. Und kaum jemand schätzte die Lage realistischer ein als Dr. Amandus Augustus Abendroth. Wir können es uns keineswegs verhehlen, wenn auch dieses Bekenntniß manchem Wehe thut, wir waren in den letzten Jahren vor der Reunion bey weitem nicht mehr frey. Unser kleiner Staat konnte seinen Bewohnern, die ersten Bedingnisse jeder Staatsvereinigung, Sicherheit der Person und des Eigenthums nicht immer mehr gewähren, welche Anstrengungen man auch machen mochte.[9] Anstrengungen unternahm die Republik ohne Zweifel. Sie gab Millionen über Millionen für die Freiheit aus. Erpressbarkeit durch jeden war das Ergebnis. Seit der französischen Revolution war unsre wirkliche Freiheit dahin, obgleich wir, dem Namen nach, noch ein unabhängiger Staat waren. Wir hatten nicht einen bestimmten Herrn; jeder, der es seyn wollte, war es für den Augenblick.[10] Im Prinzip kaufte sich die Republik die Illusion der Unabhängigkeit mit Anleihe über Anleihe, allein frey ist deswegen der Staat nicht, von dem jeder erpressen kann, was er will, den jeder ungestraft anfallen kann.[11] Von Sicherheit der Person und des Eigentums konnte nicht mehr die Rede sein. Das waren nicht irgendwelche Kriterien, es waren die Kernelemente der bürgerlichen Ordnung. Ohne sie ging es gar nicht.
In Hamburg waren diese Stimmen mehrfach zu hören, von Karl Gries mit seinen engen Verbindungen in den Senat, wo sein Bruder Johann Michael als progressiver Syndikus saß. Auch Karl war mit starkem Realitätssinn begabt. In seiner Kritik an den Zuständen in der alten Republik war das nicht zu überhören. Was aber unsere innern Angelegenheiten betrifft, so kann ich wenigsten mich nicht überzeugen, daß die Erhaltung unserer Verfassung der ungeheuren Opfer, die wir dafür gebracht, der unendlichen Plackereien, die wir deshalb erduldet haben, wert gewesen ist. Die Gewohnheit hatte sie uns lieb gemacht …; aber wenn wir die Wahrheit sagen wollen, müssen wir nicht gestehen, daß sie einer guten Administration unübersteigliche Hindernisse in den Weg legte, und den Ansprüchen, die man gegenwärtig an einen Staatsorganismus macht, wenig Genüge leistete? … und daher endlich zu nichts mehr taugt als zum Einreißen?[12] Nicht auszuschließen war, dass das Imperium Napoleons wertvolle Hilfe bei Abriß und Neubau leisten könnte. Konstruktive Kooperation wurde angeboten, von Senator Abendroth zum Beispiel.
In Norddeutschland zeigte sich kurze Zeit später, dass die Ankündigung der großen Infrastrukturprojekte nicht nur Propaganda war. Napoleon hatte einen riesenhaften Plan für diese Gegend entworfen,[13] Da sprach Dr. Abendroth und er klang hörbar beeindruckt. Der Rhein sollte mit der Ostsee verbunden werden, das war die Ankündigung aus dem Dezember 1810. Eigentlich gab es für das Teilstück zwischen Weser und Elbe mehrere Pläne, die Nutzung der Oste und der Schwinge spielte dabei eine Rolle. Über die Oste fuhren schon Torfkähne nach Hamburg. Richtung Bremen war der Hamme-Oste-Kanal in Betrieb, Richtung Hamburg der Schwinge-Oste-Kanal via Stade. Beide Kanäle waren bis 1790 fertig geworden. Projektiert und erbaut hatte sie Jürgen Christian Findorff, der die Torfvorkommen der Region kommerziell erschließen wollte. Die Patriotische Gesellschaft hatte sich auf der Suche nach Wegen aus der Energiekrise mit diesen Wasserstraßen beschäftigt und Neubauten empfohlen. Abendroth war Mitglied der Kommission und hatte sicher auch wahrgenommen, dass die Gewerbeförderer für die Realisierung nur wenig Chancen sahen. Es schien sich jetzt vieles zu ändern. Auch der Lübecker Senat hatte diesen Eindruck und propagierte den Ausbau des winzigen Stecknitz-Kanals von der Elbe an die Ostsee.[14] Er wollte den Welthandel zwischen St. Petersburg und Marseille nach Lübeck locken. In Paris pries Senator Overbeck das Projekt an, zu realisieren unter den Auspizien Napoleons des Großen.[15]
Unter dem modernisierenden Kaiser sah es so aus, als könnten die alten Pläne in einem viel größeren Maßstab verwirklicht werden. Plötzlich ging es nicht mehr nur um Torfboote, sondern um ein neues europäisches Handelssystem. Das Teilstück Weser-Elbe sollte deshalb wesentlich großzügiger ausfallen und ein größeres Verkehrsvolumen aufnehmen als die schon vorhandenen Kanäle. Napoleons eigner Plan ging … dahin, die Verbindung mit der Weser durch einen graden Canal durch die Heide zu beschaffen. Cuxhaven sollte ein förmlicher Kriegs-Haven werden.[16] Der Bau des Kriegshafens, der das neue System schützen sollte, hatte begonnen. Und jetzt stockte Abendroth, der gut wusste, wie viele Pläne für die schönsten Verbesserungen die alte Republik im Archiv verstauben ließ, der Atem: Im Jahr 1811 wurde nun mit der größten Aufmerksamkeit und dem größten Fleiß, zur Beherrschung des Stromes, der Bau zweyer Forts angefangen. Eins davon ward beym Haven begonnen, in welches der Leuchtthurm eingeschlossen ward, und sollte deswegen fort du phare heißen, das andere aber beym Osterhörner Stack: fort Napoléon. Es ward Alles mit der allergrößten Accuratesse erbauet.[17] Größte Aufmerksamkeit, größter Fleiß, allergrößte Akkuratesse.
Für Dr. Abendroth kündigte sich eine neue Zeit an. Sie sprach die strahlende Sprache des Fortschritts und der Verbesserungen. Oder wie das Jahrbuch für die hanseatischen Departements für 1812 es nannte: die Sprache der Kultur. Dieses Jahrbuch hatte Friedrich Perthes konzipiert.[18] Im Kapitel Zustand der Kultur erläuterte es, was das bedeutete:[19] Revolution in der Mechanik, Vervollkommnung der Manufakturen, öffentliche Arbeiten für 155 Millionen Francs allein im Jahr 1811, neue Häfen, neue Brücken, Ströme frischen Wassers für die Hauptstadt, mehr Kanäle, mehr Chausseen. Und von Hamburg nach Paris sank die Reisezeit um 30 Stunden. Gegen diese Informationen hatte die kaiserliche Zensur sicher nichts einzuwenden.
Neben dem technischen Fortschritt ging es um die Herrschaft des Gesetzes. Lag darin möglicherweise die historische Aufgabe des Pariser Kaisers? Johann Ernst Friedrich Westphalen, reich und weltgewandt, 1809 frisch in den Senat gewählt, hielt es nicht für ausgeschlossen. Er beobachtete in der kurzen napoleonischen Geschichte Europas eine Tendenz, das Ganze auf eine solche Weise zu organisiren, daß der Schwache gleiche Rechte des Stärkern erhält, daß für diesen die Gesetze so gut wie für jenen gelten sollen. Das ist mein Glaube an die neue Ordnung der Dinge, dahin muß das Streben jedes einzelnen gehen, nur auf die Weise geht man wirklich vorwärts, denn das Erobern, das Rauben, das Unterdrücken hört doch dann auf, wenn nichts mehr zu erobern übrig bleibt und dann die Gesetze das Eroberte zusammenhalten sollen.[20] Merkwürdige und weitsichtige Äußerung aus dem Januar 1810, auch wenn sie sich schon bald als unrealistisch erweisen sollte. Vom napoleonischen Kaiserreich versprach er sich gleiches Recht für alle unter dem Gesetz. Er sah nicht Fremdherrschaft voraus, sondern die Neuordnung Europas nach dem kontinentalen Bürgerkrieg.
Diese kontinentale Neuordnung unter dem Gesetz hatte Vorbilder in der ganz großen Geschichte. Bei Tacitus, den Dr. Bartels gern zitierte,[21] konnten die Herren des Rats Beunruhigendes über Parteikämpfe in der römischen Republik und die Folgen für die Provinzen lesen. Von dort zu den Beziehungen zwischen dem mächtigen Frankreich und der Hamburger Republik war es nicht weit. So wie in Rom hatten in Paris Parteien die Macht übernommen und so, wie römische Prokonsuln Sizilien und Afrika ausbeuteten, plünderten französische Generäle vermeintliche Bündnispartner in den Niederlanden und der Toskana aus. In Hamburg mussten die Finanzleute nur einen kurzen Blick auf den Schuldenberg der Republik werfen, um den Zusammenhang aufzuklären. Verleidet war den Untertanen Senats- und Volksherrschaft wegen der Machtkämpfe der führenden Männer und der Habsucht der Beamten; schwach war der Schutz der Gesetze, die durch Eigenmächtigkeit, politische Umtriebe, zuletzt durch Bestechung unwirksam gemacht wurden.[22]
Unter Konsul und Kaiser änderte sich die Lage: Eine neue Monarchie des Rechts und des Fortschritts entstand, in Frankreich wie in Rom. Selbst Tacitus, der Erzrepublikaner, wollte nicht viel dagegen sagen. Der Prinzeps hatte den Staat neu gegründet, Legionen schützten das Reich und die Provinzen, das Recht aber hielt alles zusammen. Recht gelte gegenüber den Bürgern, Recht gegenüber den Provinzialen.[23] So ja auch die Ansicht von Senator Westphalen. Vom Recht der Provinzialen hörte man in Hamburg natürlich gern. Die Republik lebte in der schlechtesten aller Welten, abhängig vom Kaiserreich, aber ohne den Schutz seiner Gesetze, insbesondere seiner Gesetze bürgerliches Eigentum betreffend. Die lagen den Bürgern naturgemäß am Herzen. War es nicht vorzuziehen, von einem Prinzeps als Provinz, als Departement regiert zu werden und von den Garantien der Verfassung zu profitieren? Ius apud cives, ius apud socios teneatur.
Natürlich fehlte bei Tacitus der direkte Hamburg-Bezug, aber Anfang 1811, die Einführung der Verfassung begann in den neuen Departements, forderte Dr. Abendroth bei den verantwortlichen Autoritäten des Kaiserreichs die Einrichtung eines Friedensgerichts in Ritzebüttel mit erweiterten Kompetenzen, um dieses Land für die Belästigungen zu entschädigen, die es seit der Besetzung erlitten hat.[24] War das nicht im Kleinformat einer ländlichen Gerichtsverfassung das Recht der Provinzialen? Vergleichbare Einschätzungen übrigens waren auch aus dem verunglückten Königreich Westphalen zu hören, man sieht, wie sich die Lage der angeschlossenen Gebiete bessert, während man hier erlebt, wie einige Franzosen, die Frankreich loswerden wollte, das Land ins Unglück stürzen, wie die Institutionen entarten und mißbraucht werden.[25] So im April 1811 der in Hamburg gut bekannte Schwiegersohn des aufgeklärten Hauses Reimarus, Karl Friedrich Reinhard, nunmehr Botschafter Napoleons bei seinem Bruder Jérôme, dem König von Westphalen, in Kassel.[26]
Die Vereinigung mit Frankreich konnte ein Ende der Ausplünderungen ankündigen. Es gab Anzeichen. Bourrienne, über den sich Senator Bartels schon lange geärgert hatte, geriet in verdiente Bedrängnis. Seine Vermögensverhältnisse hatten sich auffällig verbessert, selbst Napoleon fiel es auf, der vermutete, dass sein Freund und Botschafter in Hamburg einige Millionen in die eigenen Taschen abgezweigt hatte.[27] Er wurde Ende 1810 nach Paris zurückbeordert und musste sich dort regelmäßig bei der Polizei melden. Louis-Nicolas Davout führte im allerhöchsten Auftrag eine Untersuchung durch, der Kaiser verlangte des idées claires über den finanziellen Sumpf an der Elbe. Mon intention est d’obliger tous les individus qui ont reçu des sommes sans mon consentement à les restituer,[28] schrieb er zu Neujahr 1811 seinem Marschall. Fragte sich nur, was mit den Summen werden sollte, die avec son consentement gefordert worden waren. Anfang Juni kam Davouts Liste in Paris an. Sie enthielt politischen Sprengstoff. Verzeichnet waren Zivilbeamte, Generäle, Konsuln und Kriegskommissare des Kaiserreichs, die sich mit beiden Händen bedient hatten. Marschall Brune war mit 800.000 Francs dabei, auch Republikaner brauchten Geld, Außenminister Talleyrand und Bourrienne mit je 700.000, von denen hatte allerdings niemand anderes erwartet. Auch die Marschälle Bernadotte und Mortier standen auf der peinlichen Liste. Kein Wunder, dass sie irgendwie verschwand. Der Sekretär des Kaisers, Méneval, hatte sie noch gesehen, dann war sie weg. Aber immerhin, auch der Gesandte Bourrienne war weg und musste sich in Paris unter etwas entehrenden Umständen einleben.
Viel hing vom französischen Personal ab, besonders von Marschall Louis-Nicolas Davout, Prinz von Eckmühl, dem starken Mann in den neuen Departements an Elbe und Weser. Er war als kompromissloser Anhänger Napoleons bekannt und hielt sich von Februar 1811 bis März 1812 und von April 1813 bis Mai 1814 in Hamburg auf. Davout war Realist und erwartete für ein Besatzungsregime nicht sonderlich viel Gegenliebe. Aber entschieden war die Frage der Loyalitäten noch nicht. Er hatte in Deutschland auch gute Erfahrungen gemacht. Ende 1808 bot ihm die Berliner Bürgerschaft ein Geschenk von einer Million Francs an. Er gab es an die Hospitäler der Stadt weiter. Das machte Eindruck, der Marschall berichtete Napoleon über den Respekt aller Klassen der Bevölkerung für die Offiziere der kaiserlichen Armee.[29] Johann Heinrich Bartels hingegen wurde nicht recht schlau aus ihm. Es rühmte ein Jeder des Prinzen … Uneigennützigkeit; und die Gerechtigkeit erheischt es, anzuführen, daß er durchaus für sich keine pecuniairen Vortheile suchte, und jeden, welcher sich einer verächtlichen Plusmacherei … schuldig machte, strenge, ja selbst in so fern dadurch der Kaiserliche Dienst benachtheiligt worden, mit dem Tode bestrafte.[30] Er konferierte mit ihm regelmäßig, eine Freude war es nicht Man konnte stundenlang im Zimmer mit ihm auf und abgehen, wobei er beständig die Rolle des Zuchtmeisters und Instructors spielte.[31] Kein Vergleich mit den umgänglichen Marschällen Brune und Bernadotte, mit denen Abendroth sich angefreundet hatte. Zur Verunsicherung trug auch Bourrienne bei. Jusqu’ici on n’a vu que des roses.[32] Bisher also habe man nur Rosen gesehen, ließ der verbreiten. Es klang ominös, aber der alte Finanzfachmann mit besonderer Begabung für das eigene Konto sah sich wohl eher selbst als Opfer. Trotzdem, ein uneigennütziger Davout, Dr. Bartels musste es zugeben.
Das Personal der Regierungskommission sorgte für Optimismus. Anfang Januar 1811 nahm sie ihre Arbeit auf, ihre Aufgabe war es, die kommunale Selbstverwaltung des Nordens zu organisieren, Kommunen und Departements im neuen Frankreich zu gründen. François-Louis René Mouchard de Chaban, Graf und Staatsrat, war für administrative Fragen zuständig. Um einige Ecken war er mit Ex-Kaiserin Joséphine verwandt.[33] Am Abend des 2. Januar kam er bei eisigem Wetter in Hamburg an. Gleich am nächsten Tag stellte sich Senator Dr. Bartels bei ihm vor und berichtete hinterher seinem Freund Otto von Axen, wie es war. Schwiegersohn Dr. Beneke war dabei. Auch Senator Bartels kam einen Augenblick vor; er kam von dem gestern Abend angekommenen StaatsRath Graf Chaban, der ungemein freundlich ist, sehr ehrlich aussehen soll, Tabak raucht, usw. von welchem allen man sich nun noch goldne Berge verspricht.[34] Pure Illusion, meinte Beneke, sprach damit aber keineswegs für alle. Chaban hatte zuvor die Toskana kaiserlich reorganisiert und war bestens auf seine Aufgabe vorbereitet. Um die Gerichte und die Einführung des Code Napoléon kümmerte sich Louis-Joseph Faure, Ex-Jakobiner, jetzt entschiedener Anhänger des Kaisers, Staatsrat, gebildet und integer.
Chaban und Faure machten Eindruck, traten als hohe Repräsentanten des reformierenden Staats auf – und suchten das Gespräch mit den neuen Bürgern des Kaiserreichs. Sie luden ein zur Mitarbeit am Aufbau des neuen Staats, auch die Ex-Senatoren Bartels und Westphalen, die sich die Avancen der Autoritäten gerne gefallen ließen. Man musste an die Zukunft denken. Man höre so viel Gutes von den beiden Staats-Räthen,[35] schrieb Westphalen und löste schweren Ärger beim deutsch schwärmenden Beneke aus. Wenn die beiden sich trafen, waren lautstarke Auseinandersetzungen zu befürchten. Westphalen war nicht der Einzige, der sich vorsichtig-zuversichtlich äußerte. Die Hoffnung auf eine grundlegende Verbesserung der Lage durch die Einführung der französischen Verfassung schien nicht aus der Luft gegriffen. Auch der Bremer Senator Gottlieb Horn war positiv überrascht. Überhaupt weicht das Benehmen sämtlicher Glieder der Commission sehr von dem ab, welches wir an Militairpersonen in Bremen nur zu oft haben wahrnehmen müssen. Sie scheinen sämtlich ein aufrichtiges Interesse an dem Wohl der Gegenden zu nehmen, welche ihrer Fürsorge anvertraut sind, und gerne fortdauernde Zeichen darin zurücklassen zu wollen.[36]
Die Installation des neuen liberal-imperialen Staats wurde von nachdrücklicher Überzeugungsarbeit begleitet. Die Diskurse zu offiziellen Anlässen fielen manchmal etwas unbescheiden aus, versuchten aber deutlich, die Reformer vor Ort für eine französische Zukunft zu gewinnen. Gerichtspräsident Johann Heinrich Bartels notierte eine dieser Reden im Detail, gehalten vielleicht 1811 vom Staatsrat Faure zur Eröffnung der Cour impériale in Hamburg.[37] Manche Gedanken darin waren der Partei der aufgeklärten Verbesserung nicht gerade fremd. Eine große neue Ordnung der Dinge[38] kündige sich an. Das war wie üblich etwas hoch gegriffen. Aber viele Ideen waren den Zuhörern geläufig. Vom zerstörten europäischen Gleichgewicht war die Rede und von kleinen Republiken, die haltlos im weltpolitischen Sturm schwankten. Dann konstatierte die Rede einen Stillstand der Reform. Die Republik hatte es verpasst, moderne Gesetzbücher zu schreiben. Es ist hinreichend bekannt: verschiedenartige, unzureichende, verwirrte Gewohnheiten die fast alle alte und allgemeine römische und deutsche, Civil und canonische Gesezbücher erklären und ergänzen sollten, nicht allgemein geglaubte Traditionen, eine ungewiße Rechtskunde die oft dem Sinn wie den Worten der Statuten widersprach, deren Geist sie treu darstellen sollte waren die widersprechenden Elemente der civil und criminal Gesezgebung.[39] Auch das war nicht neu. Rechtsanwalt Dr. Abendroth hatte es schon 1794 in kritischer Absicht beschrieben. Die Justiz sucht in verstaubten Folianten nach Gesetzen, findet sie im widersprüchlichen Dutzend und landet bei Usancen.[40] Verwirrte Gewohnheiten nannte Monsieur Faure das. Es lag an der fehlenden Gewaltenteilung, der Senat hatte Schuld: Recht zu sprechen war für ihn nur eine Nebensache; seine Zweifelsucht und Nachläßigkeit verlängerten die Proceße bis ins Unendliche, machten die Partheien zum Opfer der Begierde der Justizagenten und sicherten die Straflosigkeit einer Menge von Verbrechern.[41] Das hätte man natürlich etwas schonender ausdrücken können, aber hier durften Bartels und Abendroth beide an ihren Ärger mit schikanösen Anwälten und verschleppten Prozessen denken.
Dann wurde es rhapsodisch. Redner schwang sich auf und blickte in das Adler Auge des Helden und Gesezgebers der dem 19. Jahrhundert von der Vorsehung zur Wiedergeburt der Nation gegeben ist.[42] Keine Frage, wer gemeint war. Der Held versprach die Wiedereroberung der Meere, schwor auf die nüzlichsten und liberalsten Zweke einer vervollkommneten Civilisation, und führte nun zu Wohl und Frommen der hanseatischen Bürger, für ihre Freiheit und ihr Eigentum das Gesezbuch der civilisirten Welt ein, den Code Napoléon.[43]
Für den nüchternen Hamburger Geschäftsmann war das eine leicht befremdliche Sprache, aber selbst ihm drängte sich ja momentweise das Bild eines Kaisers auf, der zum Beherrscher des Schicksals[44] geworden war. Hinterher wollte es keiner mehr wahrhaben. Bürgermeister Bartels auch nicht. Wir mussten, schrieb er fünfundzwanzig Jahre nach den Ereignissen, in schön stilisirten Reden, und auch in vertraulichen Gesprächen es häufig hören, daß die Franzosen es wären, welche uns aus der Barbarei hervorzögen, uns bildeten, und unser Glück begründeten.[45] Er hatte wohl gerade in seinem Archiv gekramt, die Rede Faures aus einem alten Ordner gezogen und noch einmal überflogen. Im Nachhinein fand er das alles entsetzlich: Diesen großprahlerischen und unwahren Aeußerungen lag eine eigentliche Verhöhnung zum Grunde, da es der Gesamtheit nicht minder, als dem einzelnen Individuo täglich mehr einleuchtete, daß man uns unsre Nationalität, unsre Deutschheit, unsre Sprache, und damit alles was uns heilig ist, zu nehmen beabsichtigte, daß die ehemalige Freiheit mit einem fürchterlichen Drucke habe vertauscht werden müssen, und daß dieser Druck durch die Art der Ausführung noch unerträglicher werde.[46] Aber die Schwarzseherei war möglicherweise eine rückblickende Eigenschaft.
Réunion hin oder her, Volk und Bürger gaben sich dem Wintervergnügen hin. Die Eisbahn auf der gefrorenen Elbe führte in diesem Jahr östlich an der Wilhelmsburg vorbei nach Harburg, und selbst an einem stürmischen Tag zählte Ferdinand Beneke beim Spaziergang auf den Deichen an die 400 Schlitten. Er hatte den Wind im Rücken und ich flog mehr, als ich ging, in ruhiger Beschauung mein … Reise Pfeiffchen schmauchend.[47]
Die Abkürzungen StAHH, StAB und StACux beziehen sich auf Bestände der Stadt- und Staatsarchive von Hamburg, Bremen und Cuxhaven; die Fußnoten auf die Literaturliste.
[1] Stubbe da Luz/Wurm: ‚Hamburg‘, Bd. 2, S. 17–26.
[2] Karl Gries an seinen Bruder Diederich, 28.–30.3.1811, zitiert nach Reincke: Briefwechsel, S. 255.
[3] Beneke: Tagebücher, 20.12.1810.
[4] Schmidt: Hamburg, Teil 1, S. 419. Der dänische Gesandte Rist mochte den alten frisierten Herrn nicht, weil er unermüdet in allen Häusern umherstänkerte. Rist: Lebenserinnerungen, Bd. 2, S. 98.
[5] Mönckeberg: Hamburg, S. 17.
[6] Poel: Bilder, Bd. 2, Abtlg. 1, S. 105f.
[7] Zimmermann: Chronik, S. 654.
[8] Le Moniteur, 20.3.1811. Sire, dem Herzen und der Vorliebe nach waren wir schon lange Franzosen. Wenn unserer Aktivität, unserer Industrie und dem System des Handels, das die Moral zulässt und die Weisheit empfiehlt…; wenn also endlich unseren Städten, diesen Handelszentren des Universums, etwas fehlte, dann war es ein Territorium. Eure Majestät gibt ihnen als Territorium sein Imperium.
[9] Abendroth: Wünsche, S. 14.
[10] Abendroth: Wünsche, S. 14.
[11] Abendroth: Wünsche, S. 14.
[12] Karl Gries an seinen Bruder Diederich, 28.–30.3.1811, zitiert nach Reincke: Briefwechsel, S. 255.
[13] Abendroth: Ritzebüttel, Tl. 1, S. 210.
[14] Schmidt: Hamburg, Teil 1, S. 414f.
[15] Zitiert nach Wohlwill: Geschichte, S. 382.
[16] Abendroth: Ritzebüttel, Tl. 1, S. 210.
[17] Abendroth: Ritzebüttel, Tl. 1, S. 210f.
[18] Wedekind: Jahrbuch, S. III. Wedekind stammte aus Visselhövede, rezensierte in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen und lebte in Lüneburg.
[19] Wedekind: Jahrbuch, S. 301–310.
[20] Zitiert nach Loose: Pläne, S. 192.
[21] Bartels: Briefe, Bd. 1, Vorrede und kurze Übersicht, S. 11.
[22] Tacitus: Annalen 1,2, zitiert nach Dahlheim: Welt, S. 217.
[23] Tacitus: Annalen, 1,9,5, zitiert nach Dahlheim: Welt, S. 217.
[24] StAHH, Senat Cl I Lit Pb Vol 8g Fasc 160d, Abendroth an Chaban, 5.2.1811.
[25] Zitiert nach Delinière: Reinhard, S. 315.
[26] Auch Rist: Lebenserinnerungen, Bd. 2, S. 88, hatte den Eindruck, dass es in der Elite der Republik derartige Einstellungen gebe.
[27] Charrier: Davout, S. 442-446.
[28] Zitiert nach Charrier: Davout, S. 443. Meine Absicht ist es, alle Individuen zu zwingen, die Summen zurückzuerstatten, die sie ohne meine Einwilligung erhalten haben.
[29] Charrier: Davout, S. 421.
[30] Bartels: Abhandlungen, S. XIIf.
[31] Bartels: Abhandlungen, S. XIII.
[32] Charrier: Davout, S. 438.
[33] Vidalenc: Départements, S. 419.
[34] Beneke: Tagebücher, 3.1.1811.
[35] Kähler: Zivilrecht, S. 71, Schreiben Westphalens, 31.12.1810.
[36] Kähler: Zivilrecht, S. 71, Schreiben des Bremer Senators Gottlieb Horn, 14.1.1811.
[37] Vgl. Schmidt: Hamburg, Teil 1, S. 602f.
[38] StAHH, Familie Bartels Johann Heinrich Bartels III c, Redemitschrift Bartels‘, o.D., wahrsch. 1811.
[39] StAHH, Familie Bartels Johann Heinrich Bartels III c, Redemitschrift Bartels’, o. D., wahrsch. 1811.
[40] Abendroth: Detenhoff, S. 5-8.
[41] StAHH, Familie Bartels Johann Heinrich Bartels III c, Redemitschrift Bartels’, o. D., wahrsch. 1811.
[42] StAHH, Familie Bartels Johann Heinrich Bartels III c, Redemitschrift Bartels’, o. D., wahrsch. 1811.
[43] StAHH, Familie Bartels Johann Heinrich Bartels III c, Redemitschrift Bartels’, o. D., wahrsch. 1811.
[44] Abendroth: Antwort, S. 6.
[45] Bartels: Abhandlungen, S. XI.
[46] Bartels: Abhandlungen, S. XI.
[47] Beneke: Tagebücher, 31.1.1811.


