36. Volkskenner Napoleon
... im eigentlichsten Verstand bürgerlich, fanden ihn manche Hamburger
Ferdinand Beneke hoffte auf Napoleon und ein System republikanischer Solidarität. Nach der Kaiserkrönung wandelte er sich zum deutschen Nationalisten.
Dies ist Teil 36 der Aufklärung in Hamburg: Johann Heinrich Bartels, Amandus Augustus Abendroth, Ferdinand Beneke und die Verbesserung ihrer Republik 1790–1835, which you can also read in English. Die Einleitung beschreibt, worum es geht, und wer einen Überblick über die bisher veröffentlichten Kapitel haben möchte, klickt bitte hier.
Napoleon war die Lichtgestalt des neuen Zeitalters, der Konsul, der die französische Republik auf feste Füße stellen, der General, der Europa den Frieden bringen sollte. Ganz sicher war sich Dr. Beneke in dieser Hinsicht allerdings nicht. Möge ich mich in dem Republikaner Bonaparte nicht geirrt haben!, schrieb er 1801 in sein Tagebuch. Niemahls hat selbst der blendendste Schein des Gegentheils mich von ihm abwendig machen können. Er tritt sicher, über kurz, oder lang in den Stand des simpeln Bürgers zurück. … Er wird das thun, weil er die Eitelkeit besitzt, alle andre Menschen an Größe übertreffen zu wollen![1] Wie sich herausstellte, war das etwas viel verlangt, und der Politologe Dr. Beneke lag wieder einmal falsch. Aber eine Alternative zum mächtigen französischen Konsul war für den überzeugten Republikaner lange Zeit nicht in Sicht.
Beneke, Mitte 20, ging jetzt in die Bürgerschaft und mischte sich in Weltpolitik ein. Er war damit nicht allein, es gab dafür in Hamburg korrespondierende Zirkel. In der Praxis sah das so aus: Im November 1800 bekam Beneke Besuch von Friedrich Johann Lorenz Meyer und vom neuen Syndikus Gries, für dessen Wahl er sich vor kurzem so nachdrücklich eingesetzt hatte. Dr. Meyer brachte einen Brief von Napoleons Botschafter in Kopenhagen mit. Das war Jean François de Bourgoing, der wie ein guter Geist über Hamburg waltet. Hamburg muss izt anknüpfen. Bonaparte muß wissen, daß unsre Verfassung Aufmerksamkeit und Erhaltung verdient, wenn gleich unsre Regierung sich zeither etwas armselig genommen hat.[2] Ernst Friedrich Westphalen, einflussreicher Kaufmann der Republik, teilte diese Ansicht. Senatorische Kreise gaben ihm diskret zu verstehen, sich aus diesen Angelegenheiten gefälligst herauszuhalten.[3]
Es formierte sich eine Art Opposition, deren Ziel das Bündnis der europäischen Republiken war. Auch Bremens Johann Smidt gehörte zu diesem Kommunikationssystem. Meine hanseatischpolitische Korrespondenz mit Smidt aber soll kultiviert werden … In den Bürger Konventen ist seine Stimme von Gewicht. Mehrere Senatoren stehen in beständiger konsultativer Mittheilung mit ihm usw.[4] Das schrieb im November 1800 der Hamburger Dr. Beneke. Wenige Wochen später wurde Smidt überraschend in den Bremer Senat gewählt. Gott erhalte den neuen Senator Professor Philosophiae, schrieb Freund Ferdinand und gönnte sich damit einen Seitenhieb auf den Hamburger Senat, wo kalkulierende Kaufleute und trockene Juristen, aber keine zertifizierten Philosophen zu finden waren. Dann machte er sich auf zum Rathaus, um allen davon zu berichten, die es noch nicht wussten.[5] In Hamburg waren die Meinungen über die Bremer Wahl geteilt. Man wundert sich hier allgemein, und hält die Wahl für ein Zeichen der Zeit. Die Alten schütteln die Köpfe, die Jungen applaudiren.[6] Dr. Meyers Patriotische Gesellschaft applaudierte. Einen Tag später erklärte sie Smidt zu ihrem Ehrenmitglied.[7]
Zur selben Zeit Ende 1800 wurde die Lage plötzlich kritisch. Preußen und Dänemark wollten zusammen mit Russland und Schweden den Seehandel gegen Übergriffe Englands sichern, dessen Wirtschaftskrieg gegen Frankreich alle Neutralen in Mitleidenschaft zog.[8] Das konnte für Hamburg gefährlich werden. Es hieß, Russland hätte die Stadt Dänemark versprochen und Dänemark lag sehr in der Nähe, denn Altona und Holstein gehörten zu diesem Königreich.[9] Smidt und seine Hamburger Freunde setzten auf republikanisch-hanseatische Solidarität mit Frankreich. Hamburgs Senat hingegen schickte seinen alten und erfahrenen Außenminister Syndikus Doormann. Jämmerliche hiesige Politik. Doormann! soll nach Paris.[10] Beneke konnte sich darüber sehr aufregen. Eine verpasste Chance der Annäherung an Frankreich, während die Gefahr stieg. Dänische Truppen standen in der Nähe, die wohlhabenden Klassen räumten in aller Eile ihre Landhäuser, Transportwagen für Möbel und Hausrat verstopften die engen Straßen.[11] Dann passierte es. Am 28. März 1801 verlangte der dänische Statthalter von Schleswig, Prinz Karl von Hessen, die Öffnung der Tore.[12] Zur Klärung der Lage schickte der Rat Syndikus Sieveking und Senator Schröder zum hessischen Prinzen nach Pinneberg. Der drohte mit Kanonen. Also entschloss sich der Senat nachzugeben. Die Republik wollte keine Toten und Verletzten riskieren. Außerdem hatte sie gerade die letzten 1.000 Pfund Pulver nach Altona verkauft.[13] Die Hamburger Aufklärung war zivil und setzte auf Finanzkraft. In diesem Fall bedeutete das, Tore öffnen und schon einmal Geld bereithalten für den hoffentlich baldigen Abzug.
Der Senat brauchte aber die Zustimmung der Bürgerschaft, also wurde sie in aller Eile einberufen. Es war Mitternacht, der Prinz drängte. Und jetzt passierte etwas Spektakuläres. Die Bürger widersetzten sich der zivilen Vernunft und ließen sich begeistern für einen militanten, bewaffneten Republikanismus. Noch spektakulärer war, dass die übermüdete und erregte Versammlung plötzlich Geschmack an Partei und Opposition fand. In den Bürgerschaftskammern[14] brach wilde Agitation aus und die Anführer stammten aus den ersten Häusern der Republik: Conrad Johann Matthiessen, Sozialreformer und Millionär aus dem alten Sieveking-Kreis und Ernst Friedrich Westphalen, Chef der Commerzdeputation; dazu ein paar Radikale: Johann Diedrich Schuchmacher, der Veranstalter jakobinischer Bacchanale, und im Katharinenkirchspiel Beneke selbst, der in seinem Tagebuch die Aufregung dieser Nacht schilderte: Wir bearbeiteten die Menge mit glücklichem Erfolge, entflammten die Gemüther, und forderten furchtlose Ueberlegung, und muthigen Entschluß. Diese OpposizionsParthey siegte mit großer Mehrheit. um 2 ½ Uhr.[15] Vier von fünf Kammern stimmten gegen den Senat und für die Verteidigung der Republik. Aus Partei und Opposition bildete sich eine Oppositionspartei. Und ganz unerhört: Vor dem Rathaus standen Demonstranten, die die parlamentarische Opposition lautstark unterstützten.[16]
Der Erfolg war nicht von Dauer und das hing mit einer Spezialität des Hamburger Parlamentarismus zusammen. Die Bürgerschaft bestand aus fünf Kammern, den Kirchspielen. Ihr Votum war entscheidend, nicht das Votum des Einzelnen. Anfänglich hatte nur Michaelis mit dem Senat gestimmt. Der Rat aber gab nicht nach, stellte den gleichen Antrag mit verbesserter Begründung noch einmal und unterlag erneut, jetzt nur noch mit 3:2, Jacobi war ins Senatslager übergegangen. Es folgte ein dritter Versuch, diesmal verbunden mit einer Drohung: Würden die Bürger sich weigern, wollte der Senat den Ausnahmezustand erklären und eine Entscheidungsdeputation einsetzen. Nach der Verfassung der Republik lag die Souveränität gemeinsam bei Senat und Bürgerschaft. Einstimmigkeit war erforderlich. War die nicht zu haben, wählten sie eine paritätisch besetzte Deputation, die im kleinen Kreis eine Entscheidung fällte. Das aber war seit Jahrzehnten nicht mehr vorgekommen und galt als Bankrotterklärung der Republik.[17] Die verschreckte und übermüdete Bürgerschaft gab im Morgengrauen nach.
Es wurde auch Zeit, meinte Senator Bartels: Die versammelte Bürgerschaft war zu aufgeregt, als daß sie Gründe und Gegengründe genau hätte abwägen können, daher war es zweckmäßig, daß in einer kleineren Versammlung die Sache, die sich nun einmal nicht abwenden ließ, erwogen, und in ihren Folgen übersehen werde. Aber der gute Geist der Bürger und ihr klarer Verstand machte dies unnöthig.[18] Das war ein aufgeklärter Klassiker. Die Öffentlichkeit neigte zu Panikanfällen und Kurzschlusshandlungen. Sie regte sich auf. Die Verfassung musste dem entgegenwirken und die Hamburger tat dies auf vorbildliche Weise, indem sie die Verhandlungen in fünf kleine Kammern mit kaum mehr als 50 Personen verlegte. Die sollten kühl die Argumente abwägen, waren aber in diesem Falle völlig aus dem Gleis geraten und hatten sich von den Einpeitschern der Opposition mitreißen lassen. Ein nochmal verkleinerter Kreis, die Entscheidungsdeputation, sollte zum aufgeklärten Diskurs der Fakten und Gründe zurückfinden.
Die Opposition sah das naturgemäß anders, sie sah schwarz. Noch kurze Zeit zuvor, im Hochgefühl der ersten siegreichen Abstimmungen wollte Dr. Beneke als alter Römer den Bürgermantel gegen die Toga tauschen und auf dem Forum zum Widerstand aufrufen. Das hatte sich erledigt. O der Schande! O der schmähligen Feigheit! Darniedergeworfen lag der Republikanismus, – darnieder lag die Republik vor den Füßen eines dänischen Heerhaufens – darnieder die stolze Stadt mit ihren 150 000 Seelen, und ihren 30 000 bereitwilligen KampfFäusten vor der höhnischen Drohung eines unberühmten Generals.[19] Beneke dachte einmal wieder sehr grundsätzlich, nicht die Stadt, nicht einmal die Republik Hamburg, sondern die Republik an und für sich, als Prinzip und als Forderung der Zeit hatte eine Niederlage erlitten. In Frankreich hatte sie sich ruhmreich verteidigt, in Hamburg machte sie nicht einmal den Versuch. Der Bruch der politischen Kultur der Über- und Unparteilichkeit erfolgte nicht zufällig. Partei und Opposition formierten sich nicht wegen einer Lappalie, sondern weil die Republik Hamburg ihre Rolle in der Geschichte des politischen Fortschritts nicht finden konnte oder wollte. So der Vorwurf der Radikalen.
Der folgende schöne Frühlingstag zeigte allerdings, dass die kühlen Herren vom Rat mit ihrer Einschätzung nicht ganz falsch lagen. Das dänische Militär kam, die Stadt blieb ruhig und das Eigentum unangetastet. Das hörte jeder gern und so viel hatte auch der hessische Prinz versprochen. Die Republik hatte sich bei zivil-nüchterner Betrachtung glimpflich, wenn auch nicht sonderlich ruhmreich aus der Affäre gezogen. Was sollte man anderes tun, wenn man zwischen den Großmächten in der Klemme saß und sein wertes Leben liebte? Senator Bartels sah keine Notwendigkeit, ein Fest abzusagen, zu dem er ins Logenhaus eingeladen hatte. Da saß Beneke an der Tafel direkt neben ihm und redete auf ihn ein. Viel Neues erfuhr er nicht, es reichte jedoch, um sich noch einmal über die senatorischen Kleingeister aufzuregen. Nach einigen Streifzügen um Rathaus und Börse kam er zu der Ansicht, die öffentliche Meinung stehe mehrheitlich auf der Seite der Opposition. Das aber glaubt jede Opposition.[20] In den Konventen konnte Beneke das Gegenteil feststellen.[21]
Besonders deprimierend war es am 4. April. Der Senat hatte die Bürger zusammengerufen, um die Modalitäten der Besatzung zu regeln. Soldaten und Pferde der dänischen Streitmacht mussten versorgt werden. Finanzielle Forderungen an die Staatskasse folgten – ärgerlich, aber was sollte man machen. Also machte der Rat der Bürgerschaft sachdienliche, um nicht zu sagen zweckmäßige Vorschläge. Beneke war dagegen, grundsätzlich, gegen alles, gegen die ganze Linie, übte sich als Oppositionsführer und Verteidiger echten Republikanertums. Werthe MitBürger!, flammte er die gesetzten Herren des Katharinenkirchspiels an, Die Ehre eines kleinen Staats ist seine stärkste Waffe … Wir freyen, friedlichen Hamburger willigen in keinen schmähligen Tribut … Unsre Nachgiebigkeit wird unser Ruin …, und weiter in diesem Stil.[22] Aber seine werten Mitbürger folgten ihm nicht. Punkt für Punkt billigten sie die Vorschläge des Rats, wenn auch zum Teil mit knappen Mehrheiten. Der Konvent war eine einzige Niederlage der selbsternannten echten Republikaner. Die Frustration war so groß, dass sie einen förmlichen Protest gegen die Beschlüsse zu Protokoll geben wollten. Damit erlebten sie jedoch eine Abfuhr.[23]
Am Ende des Tages saßen die Unzufriedenen von der Opposition im Club im Rothen Hause, die Stimmung war mau: Ein stummes Whist mit Westphalen, Senator Bartels, und Syndicus Gries.[24] Was aber machte Senator Bartels in dieser Runde? Vielleicht interessierten sich die Herren im Rat für die nächsten Schritte der Opposition? Vielleicht spürte der Senator doch eine gewisse Sympathie für die jungen Radikalen? Oder wollte er nur Karten spielen? Wie auch immer, der plötzliche Ausbruch von Parteigeist blieb nicht ohne Folgen. Einige wütende Senatoren wollten den Oppositionsführer Beneke aus der Bürgerschaft werfen: Mir sind seit einiger Zeit Winke gegeben, daß ich mir jetzt lebhafte heftige Feinde unter den senatorischen Bürgern gemacht hätte, ja sogar, daß schon andre Bürger Verfolgung erlitten, weil sie zu „meiner Parthey“ gehört hätten. Man habe sogar deswegen den der Anciennität nach in die JuratenStelle folgenden Bürger Joh. Ant. Schmidt mit Widerspruch gewählt, welches seit 84 Jahren nicht geschehen. Ja, man habe behauptet, mir, als Nieder Gerichts Praeses, stehe die legislative Stelle nicht offen. [25] Das stimmte nicht, war aber die ultimative Drohung.
Die Besetzung selbst blieb Episode, die Dänen verschwanden schon im Mai 1801 aus der Stadt und das politische Leben schwenkte in seine gewohnten Bahnen ein. Die patriotische Dichterin Engel Christine Westphalen feierte den Moment der Befreiung in einem emphatischen Gedicht: Du bist es, Himmelstochter, holde Freiheit! / Die diesen Seelenrausch in mir erzeugt![26] Sie war die Gattin von Ernst Friedrich Westphalen, jenes Chefs der Commerzdeputation, der schon im Konvent für den republikanischen Widerstand eingetreten war. Dabei hatte die Räumung Hamburgs mit Hamburg wenig zu tun. Wahrscheinlich war sie eine Fernwirkung des Friedens zwischen England und Russland, den der neue Kaiser Alexander zu Wege gebracht hatte.
Die internationalen Spannungen aber hielten an. Nach dem Abzug der Dänen im April 1801 begannen deshalb Konsultationen zwischen Hamburg, Lübeck und Bremen. Viel lief über die inoffiziellen Netzwerke: Smidt schrieb aus Bremen an Beneke, der las und antwortete gemeinsam mit Dr. Meyer von der Patriotischen Gesellschaft. Beide sorgten dafür, dass geeignete Informationen in den Zeitungen erschienen, zum Beispiel in Piter Poels Altonaer Merkur.[27] Es war Pressearbeit für die hanseatische Idee, die Kooperation der norddeutschen Republiken mit Frankreich. Allerdings mussten sich die Freunde der republikanischen Solidarität eingestehen, dass die Mehrheit der Kaufleute auf britischer Seite stand.[28] Umso wichtiger die Beeinflussung der Zeitungen. Aufsicht dabey ist nöthig,[29] fand Beneke und versuchte sich, nicht zum letzten Mal, an der Lenkung der öffentlichen Meinung.[30] Mitte April erschien, angekündigt von Smidt, der Bremer Senator Georg Oelrichs zu Verhandlungen in Hamburg. Er gab keine besonders imposante Figur ab, nicht zuletzt, weil seine Frau auf dem eleganten Hamburger Parkett einen etwas provinziellen Eindruck machte. Die Lübecker hatten den weltgewandten Matthäus Rodde geschickt, für Hamburg verhandelte Syndikus Gries. Sogleich machten sich Beneke und Dr. Meyer daran, Oelrichs auf Linie zu bringen. Meyer und ich bearbeiteten Oelrichs in puncto der Lokalisirung und der zum Passiren des Hamburger Archipelags nöthigen Kenntniß des Fahrwassers.[31] Einen kurzen Überblick über die politischen Ansichten im Hamburger Senat wollte Beneke dem bremischen Unterhändler über Smidt zukommen lassen. Das war extrem unvorsichtig, und Smidt war Diplomat genug, dieses kompromittierende Schriftstück verschwinden zu lassen.
Im Kern ging es wieder um die Annäherung der norddeutschen Stadtstaaten an Frankreich. Das bedeutete nach Lage der Dinge: die Annäherung an den Ersten Konsul der Republik. Daher Benekes Kurzprogramm: Wirkung auf Bonaparte’s Charakter. Aufklärung seiner irrigen Vorstellung von unsren Konstituzionen, Appell an den GemeinGeist des Republikaners, an den unbeflekten Ruhm des siegreichen Streiters für Freyheit usw.[32] Allerdings zeigten sich jetzt auch bei Beneke Anzeichen von Verunsicherung, denn er sprach auf einmal von den Gefahren für die Unabhängigkeit der drei Städte, die von Russland, Preußen – und von Frankreich drohten. Konnte es sein, dass die Pariser Außenpolitik weniger prinzipienstark war als bisher angenommen? Hatte das Kalkül der Macht die republikanische Solidarität überholt? Floskeln wie siegreicher Streiter für Freiheit begannen hohl zu klingen, Schmeicheleien für einen Machthaber, der sich in der Rolle des Republikaners gefiel, aber keiner war.
In diesem Frühjahr 1801 kursierten wilde Gerüchte. Die europäischen Mächte kannten kein Halten mehr und spielten Länder-Roulette: Finnland für Russland, Norwegen für Schweden, für Dänemark und Preußen Kompensationen in Deutschland, darunter vielleicht Hamburg, Lübeck und Bremen. In den kleinen Staaten an Elbe, Weser und Trave hatte man davon gehört und war ratlos. Für den überzeugten Republikaner aber, der ungezügelte Machtpolitik verachtete und für ein Relikt der Vergangenheit hielt, war eines besonders niederschmetternd an dieser hyperrealen Realpolitik: In Paris soll man conniuendo davon reden.[33] Die französische Republik schien mit Zaren und Königen unter einer Decke zu stecken, das war wohl unter connivendo zu verstehen. Wenn das stimmte, mussten Beneke und seine Freunde ihre politischen Koordinaten neu justieren. Vorerst blieb ihnen das erspart.
Die Gespräche der hanseatischen Abgeordneten verliefen gut. Ein paar Tage später schrieb Beneke direkt an Napoleon: Ich stellte den HauptSatz auf, daß in unsern Zeiten kein Staat fallen könne, müße, mit deßen Verfaßung die Bürger aus vernünftigen Gründen zufrieden seyen – ich zeigte, daß unsre hanseatische Republik solch ein Staat wäre. Sein Schlussappell an den Republikaner Bonaparte: … fallen wir dann, so verewige die richtende Geschichte mit dem Untergange der ältesten, und tadellosesten Republik zugleich die Entschuldigung: Der Sieger von Marengo wußte nicht, daß sie der Freiheit geheiligt war.[34] Beneke brachte dies bei einer informellen Abendgesellschaft bei Dr. Meyer zu Papier, wo er neben Freund Johann Jakob Rambach die Senatoren Oelrichs von Bremen, Rodde von Lübeck und Valentin Meyer von Hamburg traf. Initiator des Appells an Napoleon war Dr. Meyer, ebenso wie Beneke unzufrieden mit der lahmen offiziellen Politik. Meyer selbst hatte die Argumente für die Freiheit der Hansestädte entwickelt, zusammen mit Benekes flammenden Appellen gingen sie nach Paris. Mein Brief für Bonaparte war das Werk eines glühenden Augenblicks, schrieb Beneke an Smidt, – ein Seitenstück zu Meyers Dedukzion, – ein Wort zum Herzen, – ein System republikanischer Grundsätze, – eine Berufung. auf höhere StaatsKlugheit, auf den Geist der Zeit, und auf die Konsequenz des wahren Ruhms.[35] Aber für wen sprachen sie eigentlich?
Es sah so aus, als würde die Patriotische Gesellschaft eine Art Nebenaußenpolitik betreiben, von Republikaner zu Republikaner, von Herz zu Herz. Das war nicht unproblematisch, aber der Erfolg schien Meyer, Beneke und ihren Freunden Recht zu geben. Über den Bremer Senator Georg Gröning, der mit ihm gesprochen hatte und die Interessen der Hansestädte in diesen Jahren in Paris vertrat,[36] ließ sich Bonaparte vernehmen: La republique française toujours attendera aux voeux des Villes hanseatiques,[37] die französische Republik werde also auf die Wünsche der Hansestädte immer Rücksicht nehmen. Was wollte man mehr? Vielleicht war die Nebenaußenpolitik der Patriotischen Gesellschaft auch eher ein inoffizieller Kanal der offiziellen Außenpolitik der Republik. Verschiedene Ratsherren der drei Städte waren im Bilde, und wenn das nicht ausgereicht haben sollte, so saßen einige Tage nach diesen Transaktionen die Senatoren Bartels und Abendroth mit Beneke im Club zum Rothen Hause zusammen, und dort erfuhr man bekanntlich dieses und jenes. Wenig später machten sich der Lübecker Senator Rodde und Dr. Meyer auf den Weg nach Paris.[38] Meyer war in seinem Element. Er war von Napoleon begeistert. Dr. Beneke notierte: Der gute Meyer ist ganz trunken von Bonaparte.[39]
Der Hamburger Senat teilte die Napoleon-Euphorie nicht. Aus Bremen kamen Vorschläge für mehr Zusammenarbeit, für einen neuen Handelsvertrag mit Frankreich. Die Hamburger lehnten rundweg ab, verweigerten ihren Bremer Kollegen sogar die Begründung. Beneke wusste es von seinem Freund, dem Syndikus Gries, der immerhin für den internen Gebrauch noch eine Begründung verfasst hatte. Beneke schickte sie unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit an Smidt.[40] Die Beziehungen der drei Republiken waren kompliziert und verworren. Von einer Hanseatischen Republik, die Beneke sich so gerne vorstellte, konnte keine Rede sein, von einer vertrauensvollen Annäherung an Frankreich im Namen republikanischer Solidarität noch viel weniger.
Aber Beneke blieb vorerst Optimist und konnte dafür gute Gründe anführen. Auf die innere Stabilisierung der französischen Republik folgte im Herbst 1801 der außenpolitische Triumph, der Friede mit England, den er sich praktisch als Sieg Frankreichs vorstellte. Die für die französische und batavische Republik so ehrenvollen FriedensPräliminarien erfüllen izt alle Gespräche und die Britten Freunde sind ganz erbittert.[41] Napoleon hatte wirklich den Frieden gebracht – so schien es wenigstens.
Die Bewunderung der Hamburger Bürger für ihn stand auf ihrem Gipfel. Dr. Meyer hatte den Helden, auf den die Augen der Welt gerichtet sind,[42] schon zweimal aus nächster Nähe gesehen – in Paris im Sommer 1801 in den Tuilerien. Er hatte sich einen Trick ausgedacht, um den Großkonsul – Meyers Wort – auch persönlich kennenzulernen. Aus Hamburg hatte er den Brief einer Schulfreundin Hortense de Beauharnais’ mitgenommen. Sie war die Tochter der späteren Kaiserin Joséphine, würde in Kürze Louis Bonaparte heiraten und auf diese Weise 1806 Königin von Holland werden. Er hoffte, ihr die Grüße der Freundin in Malmaison überreichen zu können. Vielleicht saß sie ja gerade mit ihrem zukünftigen Stiefvater, dem Großkonsul, beim Tee – es war seine geheime Hoffnung. Leider war Mademoiselle nicht zu Haus.[43] Einige Monate zuvor, im Dezember 1800, hatte es auf den Ersten Konsul einen Anschlag in der Rue St. Nicaise gegeben. Napoleon hatte ihn nur knapp überlebt. Meyer grauste es noch in der Erinnerung, ein Anschlag auf einen Mann, der, ein Werkzeug höherer Macht, der Welt den Frieden geben sollte, und gerade damals diesem großen beglükenden Geschäft seinen Schlaf opferte und seine Tage widmete: auf den Mann, von welchem Frankreich alles Heil erwartet, und der sich redlich beschäftigt, es dem Land zu geben: auf den Mann, dessen Tod … neue blutige Revolutionen, neue Zerstörungen zur unmittelbaren Folge gehabt haben würde.[44]
Besonders faszinierte ihn, dass dieser Konsul eine unerklärliche, eine magische Beziehung zum Volk zu haben schien. Er hatte es inspiriert, gezügelt und die Revolution zum Stillstand gebracht. Die Auswirkungen waren sogar in Hamburg zu spüren. Von Dienstboten und Arbeitern, die an den Straßenecken die Zeitungen lasen, hörte er es. Et is een ganzen Keerl,[45] meinte ein Straßenpflasterer zu seinem Kollegen, als die beiden den Aufbruch Napoleons nach Ägypten diskutierten. Ähnlich äußerten sich die Marktfrauen, die resoluten Damen aus den Hallen von Paris. Eine von ihnen hatte sich vor den Tuilerien postiert, um ihrem Idol zuzujubeln. Vive Bonaparte, schrie sie aus vollem Halse. Dr. Meyer stand daneben und war glücklich. Ein grosser Volkskenner[46] sei dieser Konsul, leitete der Hamburger Republikaner daraus ab. Noch etwas fiel ihm an Napoleon auf. In Paris sprachen Handwerker ihre Frauen oft mit Madame und Vous an. Nicht der erste Konsul. Der sagte Du und Josephine zu seiner Frau. Im eigentlichsten Verstand bürgerlich,[47] fand Dr. Meyer das. Es wärmte ihm das Herz, dass Napoleon als treu sorgender Hausvater der etwas verschwenderischen Gattin und Geliebten jeden Luxus verbot. Sein Wille muss befolgt werden.[48] Da half kein Bitten.
Der große Umschwung der Meinungen ereignete sich nach der Kaiserkrönung 1804. Dr. Meyer sah plötzlich ein Schreckgespenst vor sich, das Ruhe und Freiheit der Welt gefährdete. Das Konsulat auf Lebenszeit kündigte den Umschwung schon an, mit der Kaiserkrönung war alles klar, dem d e s p o t i s c h e n H e r r s c h e r legte der Kaisertitel nur noch den verbrämten Mantel um.[49] Es war die Enttäuschung seines Lebens.
Auch Ferdinand Benekes Konversion war radikal. Napoleon Bonaparte hatte die Republik verraten. Der erste Republikaner – freylich mißtrauischen Gemüthern schon länger verdächtig … – steigt von dem erhabensten Platze, den je ein Mensch unter andern Menschen inne hatte, herab, würdigt sich zu einem Harlekin hinunter, und macht einen Kayser mehr.[50] Es war der Sturz der Republik, die ultimative Katastrophe, das Ende der Freiheit. Und jetzt? – und jetzt – ich bin ein Deutscher geworden, und sehe mit stillem Ingrimm meine Mitbürger in den Fesseln dieser Fremdlinge.[51] Der Deutsche war doppelt unterstrichen. Die meisten seiner Kollegen im politischen Hamburg, die Doktoren Abendroth und Bartels zum Beispiel mit ihrer Vorliebe für kältere Überlegung, wären nicht darauf gekommen. O Germanien! erwache,[52] schrieb er auf der Rückreise aus dem Weserbergland zwischen den Fachwerkhäusern von Celle. Es war das Aus der republikanischen Solidarität und die Ouvertüre der Nation. Solls denn keine Freyheit geben, nun so gebe es Deutschheit.[53]
Ein System der Welterklärung, der Weltverbesserung und der Weltaneignung hatte Schiffbruch erlitten – nicht für alle, aber für Ferdinand Beneke. Das aber sind die Folgen der Aufklärung, die zwar das Gute wollte, aber aus Dünkel das belebende, beselende Princip alles MenschenWerks: Religiosität verschmähte.[54] Zeitenwende also. Ihr deutlichstes Zeichen: die Besetzung der Republik durch kaiserlich-französische Truppen im November 1806. Mein Herz blutet auf allen Seiten.[55]
Aber es waren doch auch merkwürdige und widersprüchliche Zeiten. Ein Aspekt fiel ihm dabei deutlich ins Auge, der Kontrast der politischen Katastrophe mit unerwartetem privaten Glück. Er hatte sich in Caroline von Axen verliebt und sie erwiderte seine Zuneigung. Das war schön und führte unmittelbar zu einem zweiten Aspekt, dessen Bedeutung sich erst später zeigen sollte. Mit Caroline hatte der neudeutsch-romantische Dr. Beneke nicht nur eine zärtliche Freundin und Frau gefunden, sondern auch Anschluss an eine der einflussreichsten politischen Gruppierungen der Republik und diese Gruppe repräsentierte – nüchterne Aufklärung pur. Im Augenblick konnte kaum etwas Merkwürdigeres passieren. Ihr Kern waren die Familien Abendroth, Bartels und von Axen. Da niemand von Politik allein lebte, hatten sie einen geselligen Club gegründet. Das v. Axensche Haus ist nämlich mit den Häusern Senator Bartels, Senator Abendroth, und verschiedenen andern in einem 14-tägl. Sonntags Klubb.[56] Der Schwiegersohn in spe musste Mitte Dezember 1806 als Familienanhang mit zum vorweihnachtlichen Treffen. Nicht dass er gern hinging. Abends, wie ungern! in Gesellsch bey Senator Bartels.[57] Aber es waren genau diese Leute, vor allem Schwiegervater Otto von Axen natürlich, die ein paar Jahre später seine Politkarriere nachdrücklich förderten, obwohl sie mit Germania nichts am Hute hatten und zuallerletzt darauf gekommen wären, die Aufklärung für den europäischen Bürgerkrieg und überhaupt für alle Schlechtigkeiten der Welt verantwortlich zu machen.
Die Abkürzungen StAHH, StAB und StACux beziehen sich auf Bestände der Stadt- und Staatsarchive von Hamburg, Bremen und Cuxhaven; die Fußnoten auf die Literaturliste.
[1] Beneke: Tagebücher, 20.2.1801.
[2] Beneke: Tagebücher, 21.11.1800.
[3] Beneke: Tagebücher, 6.4.1801.
[4] Beneke: Tagebücher, 27.11.1800.
[5] Beneke: Tagebücher, 17.12.1800.
[6] Beneke an Smidt, 19.12.1800, Beneke-Tagebücher, Bd. I/4, S. 464.
[7] Beneke: Tagebücher, 18.12.1800.
[8] Schmidt: Hamburg, Teil 1, S. 201–210; Wohlwill: Geschichte, S. 246–253.
[9] Gallois: Geschichte, Bd. 2, S. 625.
[10] Beneke: Tagebücher, 4.3.1801.
[11] Beneke: Tagebücher, 25.3.1801.
[12] Die Erzählung basiert auf Beneke: Tagebücher, 28. und 29.3.1801.
[13] Gallois: Geschichte, Bd. 2, S. 625.
[14] Diesen Begriff verwendete auch Bartels: Abhandlungen, S. XXVII.
[15] Beneke: Tagebücher, 28.3.1801.
[16] Gallois: Geschichte, Bd. 2, S. 626.
[17] Über die Entscheidungsdeputation Westphalen: Verfassung, S. 159–169.
[18] Bartels: Abhandlungen, S. 162.
[19] Beneke: Tagebücher, 29.3.1801.
[20] Beneke: Tagebücher, 30.3.1801.
[21] Beneke: Tagebücher, 2.4.1801.
[22] Beneke: Tagebücher, 4.4.1801.
[23] Beneke: Tagebücher, 5.4.1801.
[24] Beneke: Tagebücher, 4.4.1801.
[25] Beneke: Tagebücher, 17.4.1801. Mit legislativer Stelle meinte er das Recht, in die Bürgerschaft zu gehen.
[26] Beneke: Tagebücher, Bd. I/4, S. 575. Von den Großdichtern Deutschlands erhielt sie auf ihre Briefe meist keine Antwort. Viel Zuspruch bekam die wohlwollende und wohlhabende Dichterin hingegen von der zweiten Garnitur. Rist: Lebenserinnerungen, Bd. 2, S. 38.
[27] Beneke: Tagebücher, 14.4.1801.
[28] Beneke: Tagebücher, 10.4.1801.
[29] Beneke: Tagebücher, 14.4.1801.
[30] Beneke: Tagebücher, 14.4.1801.
[31] Beneke: Tagebücher, 18.4.1801.
[32] Beneke: Tagebücher, 18.4.1801.
[33] Beneke: Tagebücher, 20.4.1801.
[34] Beneke: Tagebücher, 23.4.1801.
[35] Beneke: Tagebücher, Bd. I/4, S. 563.
[36] Wohlwill: Geschichte, S. 258.
[37] Beneke: Tagebücher, 24.4.1801.
[38] Beneke: Tagebücher, 25.4.1801, 4.5.1801.
[39] Beneke: Tagebücher, 10.7.1801.
[40] Beneke: Tagebücher, Bd. I/4, S. 616.
[41] Beneke: Tagebücher, 14.10.1801.
[42] Meyer: Briefe, Bd. 1, S. 79.
[43] Meyer: Briefe, Bd. 1. S. 166.
[44] Meyer: Briefe, Bd. 1, S. 87.
[45] Meyer, Skizzen, Bd. 1, S. 44ff.
[46] Meyer: Briefe, Bd. 2, S. 336.
[47] Meyer: Briefe, Bd. 1, S. 175.
[48] Meyer: Briefe, Bd. 1, S. 175.
[49] Riedel: Meyer, S. 142 und Meyer: Darstellungen, S. 110.
[50] Beneke: Tagebücher, 12.5.1804.
[51] Beneke: Tagebücher, 16.7.1804.
[52] Beneke: Tagebücher, 30.7.1804.
[53] Beneke: Tagebücher, 3.1.1805.
[54] Beneke: Tagebücher, 14.11.1806.
[55] Beneke: Tagebücher, 19.11.1806.
[56] Beneke: Tagebücher, 14.12.1806.
[57] Beneke: Tagebücher, 14.12.1806.


