33. Ein Code Civil für Hamburg
Der Thron der Schikane stürzt
Für das Vertrauen in den Rechtsstaat war es nicht ideal, dass sich die Richter der Republik unablässig mit der Reparatur des geltenden Rechts beschäftigen mussten. Frankreich, Österreich und Preußen hatten in den vergangenen Jahren vollkommen neue Rechtsordnungen eingeführt. Es war nicht klar, was in Hamburg passieren würde.
Dies ist Teil 33 der Aufklärung in Hamburg: Johann Heinrich Bartels, Amandus Augustus Abendroth, Ferdinand Beneke und die Verbesserung ihrer Republik 1790–1835, which you can also read in English. Die Einleitung beschreibt, worum es geht, und wer einen Überblick über die bisher veröffentlichten Kapitel haben möchte, klickt bitte hier.
Das Stadtbuch von 1603
Die Republik brauchte klare Gesetze. Der Bürger sollte und wollte wissen, was er zu tun und zu lassen hatte. Das aber war so gut wie unmöglich. Das lokale Recht, zusammengefasst im Stadtbuch von 1603, war so veraltet, dass Richter sich nur noch ungern darauf beriefen – zum Glück, denn es verordnete die Todesstrafe für Hexerei. Es bedarf wohl nicht erst der Bemerkung, teilte Rechtsanwalt Amandus Augustus Abendroth 1794 der kritischen Öffentlichkeit mit, daß unser Stadtbuch auf keine Weise als ein unwiederrufliches Gesetz anzusehen ist, da theils durch Herkommen und Observanz, theils durch neuere Gesetze ein grosser Theil der darin enthaltenen Verordnungen würklich abgeschaft und abgeändert worden sind.[1] 1814 schloss sich die Kommission der Zwanziger an, die die Reform der Republik an Haupt und Gliedern vorbereiten sollten: Von unseren Statuten ist ein Drittel ganz veraltet, das Andere durch Observanz abgeändert, dunkel und dem Zeitalter nicht mehr angemessen, und das Ganze unvollständig. … Dadurch kommt es, daß der Bürger sich keine zulängliche Kenntnisse der Rechte verschaffen kann, und daß die Rechtsgelehrten immer auf die römischen Gesetze zurückkommen müssen, die dann ein weites Feld zum Streit darbieten.[2]
Die Lösung: ein allgemeines Gesetzbuch … nach dem Muster des preußischen Landrechts … aber ungleich kürzer.[3] Georg Heinrich Sieveking hatte einige Jahre zuvor schon eine ähnliche Idee: Vernünftigen Leuten darf ich die Nothwendigkeit und den großen Nutzen eines solchen Gesetzbuchs nicht beweisen.[4] Sieveking war optimistisch, sein Freund Johann Arnold Günther weniger, wenn er auch den Wunsch grundsätzlich teilte. Vielleicht lag es daran, dass ein Senator Günther sich sehr genau mit möglichen Folgen für die Bürgergemeinde auseinandersetzen musste. Es spielte bei ihm die Befürchtung eine gewisse Rolle, dass die aufgeklärte Republik zu schnell voranschreiten und damit ihre Bürger überfordern könnte. Selbst Monarchien waren mit diesen Projekten gerade ins Stolpern geraten, siehe das josephinische Österreich. Republiken mussten ihre Bürger mitnehmen und darauf achten, das Volk nicht zum Krawall für die guten alten Zeiten einzuladen. Jeder vernünftige Mensch wusste, dass Aufruhr auf den Straßen den Fortschritt nicht gerade förderte, aber das Volk neigte zur Unvernunft. Gesetze lassen sich, kommentierte Günther in der Patriotischen Gesellschaft, nicht wechseln, wie man sein Kleid oder sein Hausgeräth wechselt. … wehe dem Staat, der die Umschaffung seiner Gesetze übereilt! er stiftet Wehe für Wohl auf mehrere Generationen hinaus; er verwirrt, statt zu ordnen; säet, statt Eintracht zu befördern, den Samen neuer Zwietracht; häuft die Anzahl der Processe, statt sie zu mindern; mehrt die Wege der Chicane, statt sie zu verschließen.[5] Ein Fehler, und die Chance zur Reform war vertan.
Der Thron der Schikane
Johann Heinrich Bartels schrieb seinen Mitbürgern aus Italien und führte dabei gern die großen juristischen Neuerer an. Manche hatte er selbst kennengelernt. In La Cava, einem kleinen, romantisch gelegenen Ort in Kampanien, hatte er mit Gaetano Filangieri gesprochen, Schriftsteller und Hofmann, einstmals Freund des Königs von Neapel. Mir bleibt sein Andenken unvergeßlich theuer, und die wenigen Stunden, die ich mit ihm durchlebte, gehören zu den schönsten meines Lebens.[6] Der Reisende war lebensfroher Optimist, es waren in Italien weder die ersten noch die letzten schönsten Stunden seines Lebens. Im Anschluss tat er gleich einmal seine Meinung über den juristischen Sumpf im Königreich Neapel kund:
Es macht wenigstens einen erbärmlichen Kontrast, wenn man gerade zu diesen Zeiten, wo man allenthalben das Grab der juristischen Chikane zu öffnen, die ganze Gerichtsverfassung so viel wie möglich zu vereinfachen, und der Fassungskraft eines jeden Menschen mehr anzupassen sucht; wo schon selbst J o s e p h und L e o p o l d in Italien die Bahn dazu gebrochen haben, und man den Bürgern im Staate, so wie den Studenten auf Akademien, ihr Gesezbuch in die Hand gibt, damit sie sich schon vor jeder Handlung ihr sichres Urteil fällen können; wo selbst in Italien ein B e c c a r i a und ein F i l a n g i e r i die Pflichten des Richters, und den Zwek der Geseze deutlicher auseinander zu sezen und genauer zu bestimmen unablässig sich bemühen; wenn man gerade zu diesen Zeiten, sage ich, die Gesezgeber in Neapel noch ruhig ihren Berg von Gesezbüchern ansehen, durch neue Mandate ihre Zal noch immer vermeren, und Gerechtigkeit mehr verwikeln sieht.[7] Das Königreich war ein Paradies trickreicher Rechtsanwälte, zu besichtigen in den Gefängnissen. In Neapel saßen bei 4,5 Millionen Einwohnern 12.000 Menschen in Haft, in Leopolds aufgeklärter Toskana bei einer Bevölkerung von einer Million nur 64.[8] Entschlossen rief der reisende Kritiker nach einem philosophischen Kopf, der den Tron der Chicane zu Boden würfe, dann … würde unstreitig in diesem glüklichen Lande, das goldne Zeitalter entstehn.[9]
Es könnte wohl sein, dass Dr. Bartels sich selbst als den philosophischen Kopf betrachtete, der einmal den heimischen Thron der Schikane stürzen würde. Lust hatte er und Gelegenheit dazu gab es auch, es war schon die Rede davon. Er konnte zudem sicher sein, dass Kollege Abendroth dabei behilflich sein würde. Für den war ein einheitliches Zivilgesetzbuch sogar noch wichtiger als eine neue Verfassung. Ich bin der Meynung, daß es ein wenigstens vergebliches, vielleicht sogar gefährliches Streben seyn würde, uns eine Constitutionurkunde geben zu wollen … . Viel wichtiger ist es die Civilgesezgebung in einen Codex zu bringen, da hierin das tägliche Verhalten im bürgerlichen Leben enthalten ist.[10] Jeder sollte nachschlagen können, ob er erbberechtigt war oder nicht, das schonte Geld und Nerven.
An Versuchen, das republikanische Gesetzesdickicht zu durchleuchten, hatte es nicht gefehlt. Syndikus Johann Klefeker hatte sich mit einer gewaltigen Textkompilation darum verdient gemacht. Das Problem war nur, dass die neuesten Aufklärer von der Qualität dieser Arbeit nicht mehr durchgängig überzeugt waren. Der Ritzebütteler Gouverneur Abendroth nahm 1809 den einschlägigen Band zur Hand, als er sich über die Heidedörfer seiner Provinz orientieren wollte. Er hätte es sich sparen können. Klefeker in seiner Sammlung … irrt wie so häufig ganz außerordentlich, wenn er alles hier fest bestimmt oder beygelegt glaubt, er macht auch hier, wie so oft nichts als unnützes albernes Gewäsche.[11] Diese Sicht der Dinge brachte Dr. Abendroth in einer offiziellen Botschaft dem hochweisen Senat im Rathaus zur Kunde, mochte der damit anfangen, was er wollte.
Es gab allerdings doch einige Fortschritte. Im Mai 1802 erließen Senat und Bürgerschaft ein Gesetz zur Verkürzung von Prozessen.[12] Es schob den Schikanen der Anwälte einen Riegel vor, kürzte Gerichtsferien und genehmigte Fristverlängerungen nur noch aus wichtigen Gründen, wozu die Überarbeitung des Anwalts nicht gehörte. Vor allem verbot es Impugnationen. Darunter verstanden Hamburgs Richter Einsprüche gegen die Umschreibung einer Immobilie im Grundbuch, die von Gläubigern und Erben, aber eben auch von missgünstigen Dritten vorgebracht werden konnten. Diese Impugnationen dienten dem Neide, dem Hasse und der Chikane zu schreklichen Werkzeugen, dem Fleiße, der Thätigkeit und den vernünftigen Speculationen freier Bürger Schranken zu sezzen,[13] so das aufgeklärte Journal Hamburg und Altona. Sie spielten also bei strittigen Immobilientransaktionen eine Rolle und wurden dazu genutzt, Eigentümer vorübergehend mattzusetzen. Umso erstaunlicher das Ergebnis dieser Reform, es sind …, was zu bewundern ist, die zu mannigfaltigen Chikanen veranlassenden Impugnationen der Umschreibung von Erben und Posten gänzlich aufgehoben.[14]
Bartels und Abendroth wären gerne weiter gegangen, denn es gab noch mehr Hindernisse beim Hausverkauf: die Verlassungen. Verlassungen waren feierliche, öffentliche Erklärungen der Verkäufer, dass sie keine Rechte an der Immobilie mehr ausüben würden. Sie beendeten den Verkauf formal, aber sie kosteten auch Geld und hatten keine praktische Funktion mehr, da schon der Eintrag in die Hypothekenbücher reichte, um das Verkaufsverfahren wirksam zu einem Ende zu bringen. Aber die Verlassungen blieben. Senator Bartels unterstellte unsaubere Geldinteressen der Senatssekretäre, die sich damit befassten und davon profitierten. Er hasste das und schrieb in diesem Sinne an Freund Abendroth. Was die Secretarien darüber – ob es rathsam sey, die Verlassungen aufzuheben oder nicht – für Weisheit auskramen sollen, ist mir nicht deutlich. Verstehen die Herren das Ding besser als totus Senatus – oder bringt es ihnen etwa was ein?[15] Wahrscheinlich Letzteres. Die Bürgerschaft wollte sie 1818 erneut abschaffen. Wieder Fehlanzeige.[16]
Aber immerhin gab es weniger Schikane. Wie wichtig das genommen wurde, lässt sich noch einmal im Journal Hamburg und Altona nachlesen: Ein schöner Beitrag zur Geschichte der Menschheit[17] überschrieb es lobend seinen Artikel über das Ende der Impugnationen. Auf die Abschaffungen der Verlassungen mussten Hamburgs Geschäftsleute noch länger warten.
Der Code Napoléon
Plötzlich aber kam das Gemeinwesen in den Genuss sehr moderner Gesetze – und zwar flächendeckend. Ende 1807 forderte der französische Kaiser die Einführung des Code Civil, er selbst bevorzugte den Begriff Code Napoléon.[18] Der Code repräsentierte das neue Frankreich. In Fontainebleau hingen im Gesellschaftszimmer Karl Theodor von Dalbergs, Fürstprimas des Rheinbundes, drei Apotheosen des Kaisers, davor auf einem Tisch: das Gesetzbuch des Imperiums.[19] Von Glück und Prosperität für die Hansestädte war jetzt in hohem Ton die Rede. Die Römer hätten ihren Alliierten Gesetze gegeben, warum sollte Frankreich es nicht auch tun? Das war die Ansicht des Kaisers, und von den Bremern war es unhöflich, um nicht zu sagen beleidigend, mitzuteilen, sie hätten bisher keine Zeit gehabt, sie zu lesen.[20] Louis-Antoine de Bourrienne, der kaiserliche Gesandte, ließ wissen, etwas mehr Enthusiasmus könne hilfreich sein, wenn die Republiken an Modifikationen inhaltlicher Art dächten. Eigentlich dachten sie eher an Verzögern und Verschleppen. Bremen und Lübeck versuchten sich in dieser Kunst, Teile des Hamburger Senats auch, Bürgermeister Amsinck zum Beispiel erwartete irreparable Schäden. Der vom echten Republikaner zum echten deutschen Nationalisten gewendete Dr. Beneke lamentierte: Heute hat sich Hamburgs Noth gemehrt. Napoleon muthet uns … die Einführung des Code Napoléon zu. Alles ist in Bestürzung.[21]
Wirklich? Selbst ein Bremer Senator und Freund Benekes, Johann Vollmers, meinte, man habe es im Code Napoléon mit dem Geist der Zeit zu tun, wovon der Kaiser selbst nur ein Organ ist.[22] Vollmers sprach für all diejenigen, die den Code Napoléon für die Signatur der Moderne hielten. Dazu gehörte auch ein Teil der Hamburger Bürgerschaft. Im Dezember 1807 genehmigte sie seine Einführung – im Prinzip. Senator Heinrich Hanker, er saß seit 1802 im Rat, sollte ein Gutachten verfassen. Geschickteren Händen konnte die Sache … nicht anvertraut werden, war vom gut informierten Karl Gries zu hören, sein Bruder Johann Michael Gries saß als Syndikus im Senat und wohnte bekanntermaßen im Hause von Senator Bartels. Und dann folgte noch eine merkwürdige Einschätzung: Das größte Unheil wird am Ende daraus entstehen, daß weder Richter noch Advokaten den Code studieren werden.[23] Anscheinend fürchtete er nicht den Code, sondern das altgediente juristische Establishment, das die Fortbildung verweigerte.
Die Senatskommission jedenfalls, die sich mit dem Thema beschäftigen sollte – Hanker, Gries und Thomas Brunnemann –, schien sich auf eine Zukunft mit dem Code Napoléon einzustellen. Keine Halbheiten, so ihr Ergebnis, vor allem keine Einführung als Subsidiarrecht, wie in Lübeck. Sie hätte das Gesetzesdickicht nur noch weiter wuchern lassen. Die Elblösung: ein Code Napoléon für Hamburg – mit ein paar Anpassungen wie im Königreich Holland.[24] Die Lösung war radikal und zweckmäßig, um den Thron der Schikane zu stürzen, was ja schon Bartels seinerzeit in Italien gefordert hatte. Dr. Abendroth meinte ergänzend, die Minirepublik sollte sich nicht mit eigenen juristischen Jahrhundertprojekten überheben: Bey den Fortschritten, die die Gesetzgebung gemacht hat, würde es überhaupt wohl sehr unzweckmäßig und zeitraubend seyn, wenn wir, bey den gefühlten Bedürfnissen einer neuen Gesetzgebung, für irgend eine Branche ein neues Gesetzbuch wollten selbst entwerfen lassen; es wird völlig hinreichen, eins der neuen Gesetzbücher zum Grunde zu legen, es auf unsere Lokalitäten mit wenigen Abänderungen anzuwenden und es dann anzunehmen.[25]
Die Einführung des Code Napoléon erfolgte in Hamburg im August 1811, allerdings nicht mehr freiwillig. Die Republik hatte unterdes ihre Unabhängigkeit verloren, dafür aber festen Gesetzesgrund gewonnen. Armand Auguste Abendroth, vom Kaiser gerade zum Bürgermeister der guten Stadt Hamburg ernannt, regierte jetzt im Vollgefühl seiner Autorität – und die Grundlage dieser Autorität bildeten die neuen Gesetzbücher. Es mischte sich ein gewisser Stolz in seine offizielle Korrespondenz. Dem hochgelahrten Senior des geistlichen Ministeriums, Pastor Johann Jakob Rambach, erläuterte er ebenso einsichtsvoll wie nachdrücklich die Sachlage, schrieb vom Willen der Gesetze des Reiches,[26] vom Code Napoléon[27] und den Grundsätzen der französischen Reichsverfassung,[28] manchmal brauchte er keine beschreibenden Beiworte mehr, dann hieß es nur noch: das Gesetz.[29] Und das Gesetz war der Code Napoléon. Der Thron der Schikane war gefallen.
Einige allerdings waren ganz und gar gegen den Code Napoléon, Ferdinand Beneke zum Beispiel. Es grauste ihm vor so viel Theorie, es grauste ihm vor dem Plädieren und der mündlichen Oberflächlichkeit. Damit hatte er auch persönlich als Verteidiger schlechte Erfahrungen gemacht.[30] Es lag ihm einfach nicht. Das kleidete er dann in die deutsche Vorliebe für Gründlichkeit und Gemüt.[31] In Anbetracht der Tatsachen blieb ihm aber 1811, wollte er sein Geld als Rechtsanwalt verdienen, nichts anderes übrig, als sich mit der neuen Gesetzeslage zu befassen. Er brauchte eine ausgedehnte Wanderung durch den Sachsenwald, um sich in Stimmung zu bringen. Dann schien es zu gehen. Ich denke nun auch mit desto schärferem Zahn in den sauren Apfel des Code Napoleon beißen zu können, wenn ich heimkomme, wahrlich dazu war so eine Operazion auch nöthig, denn der ganze Mensch war mir schon stumpf dabey geworden.[32] Das aber war wahrscheinlich eher die Ausnahme, denn das Vertrauen der bürgerlichen Öffentlichkeit in das Gesetz war ganz erstaunlich. Da war Karl Gries, Sohn eines Hamburger Senators und Bruder eines Hamburger Syndikus’, eigentlich wollte er nicht in die französische Administration eintreten, dann aber wurde er im Juli 1811 zum Richter ernannt. Kein Problem für ihn, da es sich um ein Amt handelte, wo die Willkür keinen Raum findet und das Gesetz allein die Handlungen leitet.[33]
La Cour Impériale à Hambourg
Mit der Einführung des Code Civil nahmen die neuen Gerichte ihre Arbeit auf. Johann Heinrich Bartels wurde Richter an der Cour Impériale im Eimbeckschen Haus, nunmehr Palais de Justice.[34] Sie fungierte mit ihren vier Kammern als Gericht zweiter Instanz für die etwa 1 Million Einwohner der hanseatischen Departements. Die Ernennung brachte erhebliches Prestige mit sich. Nicht jeder der alten senatorischen Elite, der gerne wollte, wurde auch genommen. Von hiesigen SenatsMitgliedern sind nur Bartels, Brunnemann, und Jänisch hineingekommen,[35] schrieb Beneke am Tag der Eröffnung. Bartels übernahm den Vorsitz der zweiten Zivilkammer. Das Gehalt war nicht ganz unwichtig. Es musste Verluste an anderem Ort ersetzen. Der neue Richter beschrieb das in seinem Personalbogen und übertrieb dabei wahrscheinlich etwas. Il avoit autrefois, Bartels über sich selbst in dritter Person, des revenues très considérables de plusieurs immeubles … à Hambourg qui sont réduits à presque rien. Les revenues des fonds placés dans le Commerce sont incertains. Comme président de la Chambre il a un traitement de 6.250 francs.[36] Sein Chef, der Präsident des Gerichtshofs, war Hercule de Serre, alter lothringischer Adel, zehn Jahre Emigrant in Deutschland, 1802 nach Frankreich zurückgekehrt, vor seiner Ernennung Generaladvokat an der Cour Impériale von Metz. Er verdiente 25.000 Francs und fand es schwer, damit auszukommen.[37] Direkt ausgesucht hatte er sich seinen neuen Standort auch nicht. In Travemünde ging er in der Ostsee baden, nunmehr einem französischen Gewässer. J’ai beau faire, je ne puis croire que je me baigne dans des eaux françaises, meinte er, als er am Strand den Kollegen vom Finanzamt, den Comte de Puymaigre traf. Auch Franzosen wunderten sich über die grenzenlose imperiale Expansion.[38]
Der kaiserliche Gerichtshof zeigte Energie, nichts anderes war zu erwarten. Er hatte mehr Richter als das unbetrauerte Wetzlarer Reichsgericht[39] und entschied in gut zwei Jahren über 700 Fälle. Senator Abendroth sparte auch nach wiedergewonnener Unabhängigkeit der Republik nicht mit Anerkennung für dieses Institut des Fortschritts.[40] Aber nach dem Sturz des Kaiserreichs hatten Senat und Bürgerschaft nichts Eiligeres zu tun, als den Code Civil wieder abzuschaffen.[41] Das war wohl ein Fehler und Dr. Abendroth wies darauf hin, dass der Herzog von Oldenburg – Dr. Meyer von der Patriotischen Gesellschaft kannte ihn noch als Prinz Peter – ihn klugerweise beibehielt.[42] Der Einzige war er ja auch nicht. Unstreitig hat die französische Gesetzgebung, so wie die Gerichtsordnung sehr viele große Vorzüge; vielleicht würde es auch bey uns rathsam gewesen seyn, nur allmählich abzuändern;[43] So Dr. Abendroth. Mehr Dissens durfte sich selbst dieser konflikterprobte Senator nicht leisten. Und wenn es im Übrigen die französischen Gesetze nicht sein sollten, dann taten es auch die preußischen, nur eben ein vernünftiges und verständliches Gesetzbuch für den Geschäftsmann an Börse und Gerichten sollte es sein. Nützlichkeit konnte französisch und preußisch buchstabiert werden. Man konnte es sich ja noch einmal überlegen: Dies kann auf ruhigere Zeiten verspart werden, obwohl die Redaktion oder vielmehr Reduction des vortrefflichen preußischen Gesetzbuches auf unsere ältere Gesetzgebung und auf unsre Lokalverhältnisse keine großen Schwierigkeiten haben würde, besonders wenn ein uns hinlänglich bekannter Jurist mit seinen tiefen Einsichten und Vorarbeiten uns hiebey unterstützen wollte. Indeß eilt dies nicht so sehr. Haben wir uns mit unserm höchst unvollständigen, zum Theil unverständlichen Gesetzen so lange beholfen, so kann dies auch füglich noch ein Jahr länger dauern.[44] Nur dauerte es dann noch 86 Jahre, bis am 1. Januar 1900 das Bürgerliche Gesetzbuch eingeführt wurde.[45]
So hatte sich auch Dr. Bartels die Sache nicht gedacht, der sich wahrscheinlich gerade etwas wehmütig an seine Lieblingsidee erinnerte, den Thron der juristischen Schikane zu stürzen. Die neuerstandene Republik habe zwar viel geschafft, aber vieles bleibt noch zu thun übrig, fügte er realistisch hinzu. Ein dem Bedürfnisse der Zeit und den Fortschritten in der Wissenschaft angemessenes Civil-Gesetzbuch, das … klar und verständlich Jedem zugänglich ist; ein Handels-Codex, der das Recht aus der Natur der einheimischen Geschäfte schöpft …; ein Criminal-Gesetzbuch, so wie es die Menschlichkeit, die strafende Gerechtigkeit, der Fortschritt in der Wissenschaft und das Beispiel, worin uns fast ganz Deutschland vorangegangen ist, fordert.[46] Besser konnte man es nicht sagen. Alle Leitmotive der aufgeklärten Justiz kamen vor. Noch war er optimistisch, wegen der vielen gediegenen Vorarbeiten, aber dann blieb alles stecken.
Ab und zu tauchten auch bei Abendroth noch einmal die alten Reformwünsche auf, aber selbst bei ihm zeigte sich Ermüdung: Eine neue Ausarbeitung des Stadtbuchs und besonders des Strafgesetzbuches ist gewiß sehr wünschenswerth, wenn gleich die Heroen in der Jurisprudenz … auch darin verschiedener Meinung sind, ob unser Zeitalter sich zu einer Legislation eignet.[47] Als er dies 1830 schrieb, hatte sich gerade die nächste Revolution ereignet und auch in Hamburg zu Straßenkämpfen mit Toten und Verletzten geführt, daher vielleicht die Zurückhaltung. Zwischendurch, während seiner Zeit als Hamburger Polizeichef, fand er eine andere Lösung. Er erklärte sich kurzerhand selbst zum Gesetz – jedenfalls für kleinere zivilrechtliche Streitigkeiten –, setzte sich morgens in aller Frühe im Stadthaus in Positur und entschied frisch nach Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeitssinn. Er wurde dadurch bei den kleinen Leuten der Republik ungeheuer populär. Zur Not ging es auch ohne Code Civil, wenn das Gemeinwesen die richtigen Richter hatte. Es wird noch darüber zu berichten sein, allerdings auch darüber, dass die Republik ihrem eigenen Polizeichef – Abendroth – diese Bemühungen per Kompetenzgesetz verbot, nachdem er 50 Protokollbände mit seinen Entscheidungen gefüllt hatte.
Die Abkürzungen StAHH, StAB und StACux beziehen sich auf Bestände der Stadt- und Staatsarchive von Hamburg, Bremen und Cuxhaven; die Fußnoten auf die Literaturliste.
[1] Abendroth: Detenhoff, S. 9f.
[2] Voigt: Protokolle, S. 143.
[3] Voigt: Protokolle, S. 143.
[4] Verhandlungen und Schriften, Bd. 4 (1797), S. 181.
[5] Verhandlungen und Schriften, Bd. 4 (1797), S. 207f.
[6] Bartels: Briefe, Bd. 1, S. 138.
[7] Bartels: Briefe, Bd. 1, S. 54f.
[8] Bartels: Briefe, Bd. 1, S. 71. Die Zahlen liegen, selbst wenn Bartels sie treu zitiert, jenseits aller Wahrscheinlichkeit.
[9] Bartels: Briefe, Bd. 1, S. 56.
[10] StAHH, Familie Beneke Ferdinand Beneke C 11, Abendroth an Beneke, 17.7.1818.
[11] StACux, Amtsarchiv Ritzebüttel II Fach 1 Vol E, Abendroth an den Senat, 11.1.1810.
[12] Anderson: Sammlung, Bd. 6, S. 107–113.
[13] Hamburg und Altona, 1. Jahrgang, 3. Bd., 1802, S. 347.
[14] Karl Gries an seinen Bruder Diederich, 27.11.1805, zitiert nach Reincke: Briefwechsel, S. 243.
[15] StAHH, Senat Cl I Lit Pb Vol 8g Fasc 160d, Bartels an Abendroth, 6.7.1802.
[16] Buek: Handbuch, S. 323ff.
[17] Hamburg und Altona, 1. Jahrgang, 3. Bd., 1802, S. 345.
[18] Kähler: Zivilrecht, S. 46-61.
[19] Tagebuch der Fürstin Pauline, 26.10.1807, Niebuhr: Fürstin, S. 75. Fürstin Pauline musste übrigens etwas auf den Fürstprimas warten. Er befand sich gerade in einer physikalischen Vorlesung.
[20] Kähler: Zivilrecht, S. 47f.
[21] Beneke: Tagebücher, 16.11.1807.
[22] Kähler: Zivilrecht, S. 50.
[23] Karl Gries an seinen Bruder Diederich, 16.12.1807, zitiert nach Reincke: Briefwechsel, S. 252.
[24] Kähler: Zivilrecht, S. 57.
[25] Abendroth: Wünsche, S. 74.
[26] StAHH, Ministerium III B Band 45 1811, Abendroth an Rambach, 29.9.1811.
[27] StAHH, Ministerium III B Band 45 1811, Abendroth an Rambach, 30.9.1811.
[28] StAHH, Ministerium III B Band 45 1811, Abendroth an Rambach, 22.11.1811.
[29] StAHH, Ministerium III B Band 45 1811, Abendroth an Rambach, 12.10.1811.
[30] Tagebuch Beneke, 5.1.1813.
[31] Tagebuch Beneke, 31.8.1811.
[32] Beneke: Tagebücher, 15.9.1811.
[33] Karl Gries an seinen Bruder Diederich, 18.8.1811, zitiert nach Reincke: Briefwechsel, S. 259.
[34] Kähler: Zivilrecht, S. 120–126.
[35] Beneke: Tagebücher, 20.8.1811.
[36] StAHH, Mairie Hamburg No 4, Personalbogen Bartels‘. Er hatte sonst erhebliche Einkünfte aus mehreren Immobilien … in Hamburg, die jetzt aber fast auf nichts geschrumpft sind. Die Einkünfte aus den Fonds, die in den Handel investiert worden sind, sind unsicher. Als Kammerpräsident erhält er ein Gehalt von 6.250 Francs.
[37] Mistler: Hambourg, S. 463.
[38] Servières: Allgemagne, S. VII.
[39] Kähler: Zivilrecht, S. 123.
[40] Abendroth: Antwort, S. 13.
[41] Kähler: Zivilrecht, S. 254.
[42] Abendroth: Wünsche, S. 161.
[43] Abendroth: Wünsche, S. 162.
[44] Abendroth: Wünsche, S. 183.
[45] Kähler: Zivilrecht, S. 272.
[46] Beneke: Bürgermeister, S. 57.
[47] Abendroth: Beleuchtung, S. 17.


