32. Die Republik als Rechtsstaat
Der Bürger beklagt Bevorzugung der unteren Klassen
In der Hamburger Republik lebten Mächtige und weniger Mächtige, Reiche und Arme. Sie zeigte sich aber bereit, das Gefälle von Macht und Reichtum durch Gleichheit vor dem Gesetz zu mildern. Dafür brauchte die Republik unparteiische Richter, vernünftige Gesetzbücher und eine aktive Polizei. Doch die meisten Gesetze stammten aus dem 16. und 17. Jahrhundert und beschäftigten sich gerne auch noch mit Hexerei und dem Einsatz der Folter. Jetzt kam es auf die Richter an.
Dies ist Teil 32 der Aufklärung in Hamburg: Johann Heinrich Bartels, Amandus Augustus Abendroth, Ferdinand Beneke und die Verbesserung ihrer Republik 1790–1835, which you can also read in English. Die Einleitung beschreibt, worum es geht, und wer einen Überblick über die bisher veröffentlichten Kapitel haben möchte, klickt bitte hier.
Die Republik hatte für Gerechtigkeit zu sorgen. Gerechtigkeit für Arm und Reich, für alle gleich. Das war ihre Hauptaufgabe und es erforderte einen besonderen Typ von Richter. Niemand sollte an der Spitze von Gerichtshöfen stehen, als wer, sans reproche et sans peur die Stimme des Volks im ganzen Umfange für sich, und den Muth hat, jedem mit gleichem Maße die Justiz zu administriren.[1] So äußerte sich sehr entschieden Senator Dr. Amandus Augustus Abendroth in seinen Wünschen für das Hamburger Gemeinwesen. Schnell, billig, verständlich und für alle Klassen gleich, das waren die Qualitätsmerkmale der guten aufgeklärten Justiz.[2] Der Anspruch war hoch, die Realität sah vergleichsweise trist aus.
Zuerst war zu klären, in welchen Fällen ein Richter überhaupt bestrafen sollte. Lange Zeit stand Strafen außer Frage und es gab sie immer noch, die alten juristischen Terroristen in Richterrobe, Senator Georg Anckelmann zum Beispiel, die Abschreckung und Strafe für die besten Mittel hielten, um die kriminellen Klassen im Zaum zu halten.[3] Das blieb nicht unwidersprochen. Allein meine Erwiderung darauf ist, erklärte Abendroth als Polizeichef seinen senatorischen Kollegen, daß es eine perfecte Pflicht und Obliegenheit der Obrigkeit ist, dem Uebel und der Nothwendigkeit zu strafen, wenn es irgendmöglich ist vorzubeugen, und nur dann das traurige Straf-Recht auszuüben, wenn alle Vorsichtigkeitsmasregeln das Uebel nicht haben verhindern können, besser ist Uebeln vorzubeugen, als erst die Leute sündigen lassen, und dann sie zu strafen.[4] Kriminalität hatte – Analyse Senator Abendroth – oft ökonomische Ursachen. Bekämpfung dieser Ursachen war dann sinnvoller. Die Noth, die bey uns herrscht, erklärte er im Hinblick auf die Wirtschaftskrise im Frühjahr 1814, erzeugt natürlich Verbrechen; die mussten bestraft werden, aber ein väterliches Gouvernement muß auch auf der andern Seite alles aufbieten, damit die Noth, so viel möglich, aufhöre, und die Bewohner nicht fast zu Verbrechen gezwungen werden.[5] Kriminalität konnte und sollte also durch Bekämpfung der wirtschaftlichen Ursachen verhindert werden.
Das alte Recht hatte von Prävention bisher nicht viel gehört und verließ sich lieber auf Abschreckung, zum Beispiel durch Todesstrafe für Diebstahl, was mittlerweile jeden vernünftigen Menschen aus der Fassung brachte.[6] Die ökonomische Interpretation der Ursachen von Kriminalität bedeutete dagegen, dass Prävention möglichst im Vorfeld der Justiz stattfinden musste. Dafür sorgten die Programme der Armenanstalt und die Ankurbelung der Konjunktur nach 1814. Zusätzlich empfahl es sich manchmal, Kleinkriminelle möglichst schnell aus den Strafanstalten zu entlassen – davon später mehr – und bestimmte Formen der Kriminalität zu ignorieren, sie zu entkriminalisieren. Beispiel Strandgut havarierter Schiffe. Es wurde verzeichnet und aufgeteilt, ein Drittel bekam der Berger, zwei Drittel der Eigner.[7]
Manche Berger konnten der Versuchung nicht widerstehen und hatten dann noch … Verschiedenes mit ihrem Gewissen abzumachen.[8] Zu beweisen war aber in der Regel nichts und der Fall musste per Eid abgeschlossen werden. Es war voraussehbar, dass dies in vielen Fällen ein Meineid sein würde. Praktisch zog ein Delikt das andere nach sich, und es kann bedenklich seyn, Veranlassung zu geben, daß ein begangenes Vergehen durch ein zweytes vergrößert wird; so wie im Allgemeinen im practischen Leben das Verhindern von Vergehen besser ist als sie zu bestrafen, so muß auch dies hier die Haupt-Sorge seyn.[9] Prävention war eine Hauptmaxime Abendroths, anzuwenden auf viele Erscheinungen der großen Stadt: Bettelei, verheimlichte Geburten und eben Betrug am Strand. Dazu kam noch ein weiterer Grundsatz. Die Leute mussten verstehen, wie und warum der Richter seine Urteile fällte. Es war eine Art rationaler Diskurs in praktischer Anwendung: Dagegen bin ich immer ein großer Freund davon gewesen, in den Urtheilen die Entscheidungsgründe anzugeben; ein Richter, auch wenn er sich irrt, sobald er nur nach seiner Ueberzeugung seine Meinung abgiebt, hat sich derselben nie zu schämen; er kann daher auch die Gründe ohne Schaden angeben, die ihn zu dieser Meinung bestimmt haben.[10]
Richter scheiterten aus der Sicht aufgeklärter Reformer des Öfteren, wenn sich Arm und Reich gegenüberstanden. Es war die klassische Klippe. Die Chancen der unteren Klassen waren nicht besonders groß, wie gewönlich in unsern Gerichten, wo sich der arme Untertan geduldig unter die Strafrute des Reichen schmigen muß, und nur in der Stille seufzen, nicht laut wider Ungerechtigkeit seine Stimme erheben darf.[11] Diese harsche Kritik kam Anfang der 1790er-Jahre vom zukünftigen Senator und Polizeichef Johann Heinrich Bartels. Er hatte sie in einem etwas länglichen Text über die mittelalterliche Geschichte der Königreiche von Neapel und Sizilien versteckt, der vielleicht auf der Leseliste der Richter der Republik nicht an erster Stelle stand. Für diejenigen aber, die lesen wollten, konnte kein Zweifel bestehen, hier hatte ein zukünftiger Bürger unter seinem vollen Namen Stellung bezogen und dabei kein Blatt vor den Mund genommen. Bartels stand mit seiner Kritik auch nicht allein, sein Freund Jonas Ludwig von Heß – einige Jahre später würden sie sich über ganz andere Fragen öffentlich bekämpfen – charakterisierte die Problemlage 1801 ähnlich und an prominenter Stelle. Hamburgs Justiz litt an Bestechlichkeit, hohen Kosten und Verzögerungen ohne Ende.[12]
Alles hing sehr weitgehend vom Richter ab und von denen gab es viele. Der Senat war ein Gerichtshof und verbrachte viel Zeit mit Prozessen, die oft im Niedergericht ihren Anfang nahmen. Prätoren waren für Kleinkriminelle und Dienstboten zuständig, die Polizeichefs der Armenanstalt für Bettler, Amtspatrone für Zunftquerelen und Landherren für prozessierende Vorstädter und Bauern auf dem Lande. War ein Richter aus irgendeinem Grunde indisponiert oder lustlos, konnte es schnell eng werden. Das kam bei Senator Martin Wolder Schrötteringk öfter vor. 1799 war er Richter für St. Pauli. Monatelang verschleppte er Verhandlungen und nahm jede Verzögerungstaktik hin. Das erlebten Anwalt Ferdinand Beneke und sein Klient Paul Loose, ein blinder Ankerschmied, alt und nicht gerade mit Reichtümern gesegnet. Seit September hat dieser infame Tyrann, so Dr. Beneke, nicht eine Audienz gegeben!! Seitdem hat der alte Loose ohne Hoffnung unter der Mißhandlung des Richters geseufzt. Nun war um 8 1/2. termin angesetzt. Um halb 11. stand ich noch allein händereibend in dem Visitezimmer … . Draussen wars voll Menschen, welche vor Sehnsucht nach Gerechtigkeit halbtoll zu seyn schienen. Endlich – die Hochweisheit hatte so lange beym Anziehen zugebracht – begann die Audienz.[13] Mehr als zwei Jahre später war der Prozess immer noch nicht beendet. Beneke und Abendroth versuchten eine Mediation, ohne Ergebnis.[14]
Ein Richter der Republik hatte versagt. Es konnte allerdings noch schlimmer kommen, denn Inkompetenz war eine Sache, Korruption eine andere. Aber gab es die im rechtschaffenen Deutschland und in der patriotisch gesinnten Republik? Schon der reisende Johann Heinrich Bartels hatte in Neapel angesichts der Käuflichkeit italienischer Juristen in Deutschland Ähnliches vermutet. Diese Dinge waren schwer zu beweisen, aber 1771 hatte eine Untersuchungskommission am obersten Reichsgericht in Wetzlar herausgefunden, dass die dortigen Richter sich routinemäßig bestechen ließen und Urteile für den Meistbietenden praktisch zum Verkauf standen. Von einigen Tausend Gulden war die Rede, abhängig vom Einzelfall.
Das war skandalös, aber als echter Aufklärer dachte Dr. Bartels auch hier präventiv. Der Staat musste für ein angemessenes Honorar sorgen. Geschiht das nicht, so schrieb der angehende Jurist, so gleicht eure Justiz einer feilen Dirne, die ihre Gunst dem Höchstbitenden verkauft! Wie groß aber der Nachteil sei der hieraus entsteht, wird einem Jeden leicht einleuchten, der nur an jene schreklichen Zeiten der wezlarschen Tapetennägel zurükdenkt; was dort im Großen geschah, ist im Kleinen nicht minder schädlich![15] Wenn Bartels und Abendroth erklären sollten, warum sie nicht viel von der hohen Reichsgerichtsbarkeit hielten, brauchten sie nicht lange nachzudenken, und der Skandal von 1771 kam ihnen in den Sinn. 1796 besuchte übrigens Kollege Johann Arnold Günther Wetzlar. Es hatte sich nichts verändert. Lethargie in jeder Hinsicht, antike Sänften im städtischen Nahverkehr und ein neues Gerichtsgebäude, das im hässlichsten Viertel der Stadt stand und seit 14 Jahren seiner Fertigstellung harrte.[16]
Dr. Beneke konnte bestätigen, dass auch die Elbrepublik nicht korruptionsfrei war. Die schriftlichen Prozesse schleppten sich hin und Geld konnte Langsamkeit sachte in Stillstand überführen. Ohne Akten war bei dieser Prozessform kein Urteil möglich, also passierte es, dass sie einfach nicht ankamen. Die Folge war, dass der Herr Gerichtspräsident Dr. Schaffshausen kein Urteil fällen konnte, denn dazu brauchte er die Akten. Woran lag es? Beneke wusste es: Bestechung des Aktuar.[17] Die Lösung: Die Gehälter für die Juristen mussten erhöht werden. An diesem Punkt herrschte völlige Übereinstimmung. Die Mitglieder der Justizcollegien müssen unabhängig und gegen Nahrungssorgen gesichert seyn; sie müssen wenigstens anständig leben können, sonst ist die Justiz in großer Gefahr;[18] Das war eine Forderung Abendroths aus dem Jahr 1814, als die Reorganisation der Hamburger Gerichtshöfe auf der Agenda stand. Von feilen Dirnen, die noch Dr. Bartels bemüht hatte, schrieb er vorsichtshalber nichts mehr. 8.500 Mark für den Präsidenten des Obergerichts und 6.000 Mark für seine ordentlichen Richter, die Justizsenatoren, schwebten ihm vor, 4.000 Mark für die ordentlichen Richter am Niedergericht.[19] Ein mäßiges Gehalt[20] – so Abendroths Einschätzung.
In manchen Fällen allerdings griff die Bürgergesellschaft dankbar auf korrupte Praktiken zurück, wenn sich gar nichts mehr machen ließ. Ein Freund Benekes aus Bremen, Schepeler, war 1808 wegen Korrespondenz mit dem britischen Feind in Schwierigkeiten geraten – die französischen Behörden überwachten das. Prätor Abendroth half, indem er sachkundig 1.000 Louisdore – immerhin runde 15.000 Mark, nach heutiger Größenordnung sicher mehr als 100.000 Euro – an Personen von Einfluss verteilte, wahrscheinlich insbesondere französische Personen von Einfluss. Er ist im Bestechen mit ca. 1000 Louisdor ausgekommen,[21] vermerkte Beneke im Tagebuch. Es sollte wohl bedeuten, dass es auch leicht hätte noch teurer werden können. Kluge Geschäftsleute bedankten sich für die Mühe: Abendroth ist ein guter Kerl, und das ist schon immer in dieser Zeit viel. Schepeler hat ihm für seine gewiß völlig uneigennützige Intercession einen SilberZettel von tausend Loth Silber (2000 Mark) verehrt. Ich hatte, so Anwalt Beneke, ihm die Art, und Maaße gerathen. (Abendroth ist nicht reich) er war herzlich vergnügt darüber, und rettete seine Würde hinter der Idee des silbernen Andenkens so nachlässig, daß ihr die Freude des FamilienVaters über die Achsel kukte. Mir behagte das.[22] Wahrscheinlich behagte das Beneke und der bürgerlichen Gesellschaft aber nur in ausgesprochenen Notfällen, bei Zusammenstößen mit der französischen Armee zum Beispiel.
Hamburger Richter hatten große Entscheidungsspielräume, besonders die Prätoren. Sie waren die Polizeichefs der Republik, und da die es mit der Trennung von Justiz und Polizei nicht so genau nahm, waren die Prätoren in vielen Fällen auch zugleich Richter. Der Senat wählte den Prätor für ein Jahr, er war immer auch Mitglied des Rats. Es gab einen ersten und einen zweiten Prätor, verantwortlich und mächtig war der erste, der zweite war sein Vertreter und designierter Nachfolger. Um 1800 befand sich die Prätur über Jahre in den Händen aufgeklärter Vielarbeiter: Günther, Bartels, Abendroth. Die Chance zur Verbesserung der Republik ließen sie sich nicht entgehen. Der Prätor hatte große Gewalt[23] und den ganzen Tag sichtbar zu seyn,[24] so Abendroth. Wahrscheinlich war es ziemlich anstrengend, aber es durfte auch gelacht werden. Freund Dr. Meyer hatte das im Sommer 1801 in einem Pariser Polizeigericht beobachtet, das ähnliche Aufgaben hatte wie die Hamburger Prätur. Ein Perükenmacher-Bursche vertheidigte hier seine, wie er sagte, sehr motivirte Maulschelle, die er einem Gassenmädchen gegeben hatte.[25] Es ging hoch her und es herrschte ein Höllenlärm, wenngleich ein Sinnspruch hinter dem Richter verkündete: Bürger, das Gesetz verlangt Respekt und Ruhe.[26] Das Volk musste sich wohl noch etwas eingewöhnen.
Für einfachere Gemüter war der Prätor wahrscheinlich der personifizierte Staat. Er verkörperte das Gesetz und Audienzen fanden in seinen Privaträumen statt.[27] Die unteren Klassen der Republik nutzten das Wohlfeile, Bequeme und Nützliche[28] dieser Instanz und belagerten das Haus von Prätor Dr. Abendroth. Es sei nur zu hoffen, meinte der, dass ein solcher Liebling des Publicums nicht unter der Arbeit, wenn alles zu ihm will, erliege.[29] Er überlebte. Erstens hatte er nichts gegen Arbeit und zweitens hatte Popularität ihre Reize. Die Beamten waren dabei nicht immer eine Hilfe. Diesen lästigen Menschen unterstellten gerade die Reformer, dass sie ihre Dienste nicht ganz unentgeltlich anboten. Sie vermuteten Korruption auf den mittleren Etagen der Gerichte und Behörden, nicht nur bei der Polizei, aber hier besonders. Indes nicht zu leugnen ist es, so schilderte Bartels die Situation vor 1810, daß die Polizeiadministration bei dem jährlichen Wechsel der Präturen sehr oft die Sache der Officianten wurde, daß die Bürger in die Hände dieser Officianten gegeben oft ihnen contribuable wurden, und daß da die Prätoren noch außer dem mit vielen Justizsachen belastet waren, sie auf die Polizei Aufsicht wenig Zeit verwenden konnten.[30]
Die Prätoren setzten unterschiedliche Akzente. Im Februar 1798 übernahm Johann Arnold Günther das Amt. Am Ende hatte er fast 10.000 Fälle bearbeitet.[31] 10.000 Fälle in wenigen Monaten! Es sieht so aus, als hätte die Hamburger Stadtbevölkerung die Prätoren als erste Anlaufstelle für alle möglichen Wünsche und Anliegen betrachtet. Die Leute rechneten sich offensichtlich gute Chancen aus, an diesem Ort gehört zu werden. Aber auch mit Verwicklungen in die hohe Diplomatie musste man rechnen. Im Gefängnis saß gerade Napper Tandy, ein irischer Freiheitskämpfer, um dessen Auslieferung Frankreich und England sich heftig stritten. Der Prätor versorgte ihn mit guten Weinen und aktuellen Zeitungen, um die Trübsal der Haft nach Möglichkeit zu lindern.[32]
Aber es war die Erfahrung der sozialen Realität der großen Stadt, die Günther die Initiative zur abendlichen Öffnung der Tore, faktisch zur Erweiterung der Stadt, und zum Bau billiger Wohnungen ergreifen ließ. Der Prätor betrieb Sozialpolitik für die ärmeren Klassen. Nur des einzigen Volkselendes, woran eben dies Amt – die Prätur also – mich kettete, der jetzigen Wohnungsnoth aller Stände, und besonders der niederen, habe ich mich annehmen können und annehmen müssen. Aber wir haben denn nun endlich eine Thorsperre, haben Fonds zum Anbau der erforderlichen Armenwohnungen, haben Gewißheit die aus Noth in öffentlichen Gebäuden Aufgenommenen wieder los zu werden, haben Gewißheit, daß auch in der größten Zeit der Noth keiner ohne Obdach geblieben ist.[33] Es gelang nicht alles. Die Reform der Gefängnisse musste warten. Aber es gelang doch auch vieles.
Als Prätor blieb Günther mit seinen sozialpolitischen Initiativen nicht allein. Bartels und Abendroth schlossen sich an, als Prätoren und später als Polizeichefs und faktische Innenminister der Republik nach 1814. Prätor Bartels sorgte 1804 erst einmal dafür, dass wieder ein städtischer Gesundheitsdirektor eingesetzt wurde. Physikus, so nannte er sich offiziell, wurde Johann Jakob Rambach, der ausgewiesene Sozialmediziner und Gesundheitsreformer.[34] Ziel war eigentlich die Regulierung des gesamten öffentlichen Gesundheitswesens der Republik, mit der Günther sich schon beschäftigt hatte. Die gelang Bartels allerdings erst 1818. Davon später mehr.
Dr. Abendroth hatte es erst einmal eilig. Anwälte, die sich in der Kunst des Verschleppens übten, mussten damit rechnen, vom Senator zusammengefaltet zu werden. Ich habe durchaus keine Zeit finden können, schrieb er 1809 leicht angenervt in den Präturleitfaden, Bemerkungen beyzufügen, ich habe 22 Audienzprotocolle, das ExcessenProtocoll und an 2.200 Urteile gehabt. Muth und Kraft sind die besten Hülfen für einen Mann der in Geschäften gereift ist. Es ist unmöglich über alle Fälle Notificationen zu geben … ich habe es mir ganz besonders angelegen seyn lassen für die Verbesserung der Urtheile und dadurch für die Sicherheit der Stadt zu sorgen.[35]
Dann konzentrierte er sich auf die Durchsetzung der Interessen ärmerer Klienten – allerdings mit gemischtem Ergebnis. Schon in der Armenanstalt hatte er dafür gesorgt, daß in jedem Falle der Arme sich der strengsten unparteiischsten Gerechtigkeitspflege zu erfreuen habe.[36] Als Prätor setzte er diese Arbeit fort. Die Leute konnten direkt zu ihm kommen, gerne auch ohne Anwalt. Das Problem war nur, dass die Beklagten mit Anwalt aufkreuzten, und damit nahmen die Verwicklungen wieder ihren Lauf. Wie ich Prätor war, so Abendroth, … gab ich während meiner beyden Prätur-Jahre solche Audienzen, und zwar an jedem der 3 Audienz-Tage, um die Sache der Armen nicht zu sehr verschleppt zu sehen, nur war es mir bey allem Eifer nicht möglich, eine Zurücksetzung dieser Sachen zu verhindern.[37] Abendroth kam immer wieder auf die wenig rühmliche Rolle mancher Anwälte zurück. Tauchten die auf, dann lief jeder Kläger Gefahr, auch die beste Sache zu verlieren, wenn er einen listigen chicanösen Gegen-Anwald hat, da er die formalia nicht kennt.[38]
Ein besonderes Problem waren die Bettler. Die langen Haftstrafen würden statt die Arrestanten zu bessern dieselben nur verschlimmern,[39] meinte Abendroth mit Rückendeckung der Armenanstalt. Kollege Bartels unterstützte ihn. Unter diesen finden sich einige die würklich aus Noth gebettelt haben, die die Hülfe die die Armen Anstalt gewährt nicht kannten, oder … durch einen sorglosen Pfleger entweder abgewiesen oder doch vernachlässigt wurden. Diese nun 6 Monate im Zuchthaus sitzen zu lassen ist eine Barbarei.[40] Die neue Verordnung behielt das ursprüngliche Strafmaß zwar bei, erlaubte dem Richter aber Abmilderungen.[41] Die Folgen zeigten sich schnell: Die Gefängnisse leerten sich. Ein Viertel der Insassen wurde entlassen.[42]
Die Prätoren nahmen den Kampf mit der Schikane auf, ernteten dafür aber nicht nur Dank.
Die bürgerliche Öffentlichkeit witterte politisches Kalkül hinter ihrer Amtsführung. Verbreitet war der Vorwurf, sie nutzten ihre Macht, um sich bei den kleinen Leuten, beim Volk, beliebt zu machen. In der Tat entschied der Prätor ja Streitereien zwischen Herrschaft und Personal – nicht immer zur Zufriedenheit der Herrschaft. Nach geltendem Recht war es erlaubt, Dienstboten zu züchtigen. Die ließen sich das aber nicht mehr gefallen, klagten wegen Misshandlung und die prätorischen Richter zeigten Neigung, ihnen Recht zu geben.[43] Unter Aufklärern gab es dafür viel Verständnis. Höchst bedenklich und gefährlich, erklärte der progressive Dr. Meyer von der Patriotischen Gesellschaft, würde es überall … und in einem Freistaat ganz unzuläßig sein, diese barbarische Antiquität, aus den Ruinen des alten häuslichen Despotismus und der Leibeigenschaft, wieder hervor suchen und einführen zu wollen.[44] Der konservative Bürger hingegen ärgerte sich derweil über den Verfall der Sitten und gab der verweichlichten Obrigkeit die Schuld. Auswärtige Beobachter brachten das auf den Punkt. Man behauptet …, daß nicht bloß Humanität, sondern auch Politik den Magistrat bewege, größern Werth auf die Anhänglichkeit des Volks, das für die öffentlichen Angelegenheiten nur kräftige Arme hat, zu legen, als auf die der obern Klassen, die auch vernünftelnden Willen bei denselben haben.[45]
Ein aufgeklärter Senat suchte das Bündnis mit dem Volk. Die Prätoren spielten dabei die führende Rolle, indem sie für Vertrauen und Zuspruch bei den kleinen Leuten sorgten. Eine ganz neue Konstellation in unruhigen Zeiten.
Die Abkürzungen StAHH, StAB und StACux beziehen sich auf Bestände der Stadt- und Staatsarchive von Hamburg, Bremen und Cuxhaven; die Fußnoten auf die Literaturliste.
[1] Abendroth: Wünsche, S. 77.
[2] Abendroth: Wünsche, S. 37.
[3] Beneke: Tagebücher, 19.11.1798.
[4] StAHH, Senat Cl VII Lit Bc No 7b Fasc 11, Vortrag Abendroths im Senat, Juni 1822.
[5] Abendroth: Wünsche, S. 173f.
[6] Beneke: Tagebücher, 19.5.1797.
[7] Abendroth: Ritzebüttel, Tl. I, S. 30.
[8] Abendroth: Ritzebüttel, Tl. I, S. 28.
[9] Abendroth: Ritzebüttel, Tl. I, S. 28.
[10] Abendroth: Wünsche, S. 50.
[11] Bartels: Briefe, Bd. 1, Vorrede und kurze Übersicht, S. 46.
[12] In einem Artikel von Heß in Der Genius der deutschen Literatur, 1801, hier referiert nach Beneke: Tagebücher, Bd. I/4, S. 526.
[13] Beneke: Tagebücher, 20.4.1799.
[14] Beneke: Tagebücher, 2.10.1801.
[15] Bartels: Briefe, Bd. 1, S. 75.
[16] Günther: Erinnerungen, S. 97–100.
[17] Beneke: Tagebücher, 14.6.1799.
[18] Abendroth: Wünsche, S. 37.
[19] Abendroth: Wünsche, S. 56f.
[20] Abendroth: Wünsche, S. 38.
[21] Beneke: Tagebücher, 20.2.1808.
[22] Beneke: Tagebücher, 25.2.1808.
[23] Abendroth: Wünsche, S. 82.
[24] Abendroth: Wünsche, S. 54.
[25] Meyer: Briefe, Bd. 1, S. 334.
[26] Meyer: Briefe, Bd. 1, S. 334.
[27] Abendroth: Wünsche, S. 51, 48 und 45.
[28] Abendroth: Wünsche, S. 45.
[29] Abendroth: Wünsche, S. 48.
[30] StAHH, Senat Cl VII Lit Lb No 28a 2 Vol 12 Dok 1a, Vortrag Bartels’ im Senat, 13.12.1816.
[31] Meyer: Johann Arnold Günther, S. 118–123.
[32] Wohlwill: Geschichte, S. 221.
[33] Meyer: Johann Arnold Günther, S. 122.
[34] StAHH, Senat Cl VII Lit Ma No 5 Vol 3d 6, Aufzeichnungen Bartels’ zur Prätur, 23.1.1805.
[35] StAHH, Senat Cl VII Lit Ma No 5 Vol 3d 6, Aufzeichnungen Abendroths zur Prätur, Januar 1809.
[36] StAHH, Allg. Armenanstalt I 82, Memorandum Abendroths für eine Kommission der Armenanstalt zur Reform der Polizei, o. D., um 1800.
[37] StAHH, Senat Cl VII Lit Lb No 28a2 Vol 13 Dok 8, Memorandum Abendroths, 22.9.1824.
[38] StAHH, Senat Cl VII Lit Lb No 28a2 Vol 13 Dok 8, Memorandum Abendroths, 22.9.1824.
[39] StAHH, Senat Cl VII Lit Qa No 3 Vol 12 Fasc 38d Dok 1, von Abendroth unterzeichneter Antrag des Armenkollegiums an den Senat, 5.3.1806.
[40] StAHH, Senat Cl VII Lit Qa No 3 Vol 12 Fasc 38d Dok 2, Vortrag Bartels’ im Senat, 5.3.1806.
[41] Anderson: Sammlung, Bd. 7, S. 75f. Das wurde 1816 noch einmal bestätigt. Vgl. Anderson/Lappenberg: Sammlung, Bd. 3, S. 96f.
[42] Voght: Gesammeltes, S. 87.
[43] Merkel: Briefe, S. 127.
[44] Verhandlungen und Schriften, Bd. 2 (1793), S. 167.
[45] Merkel: Briefe, S. 189f.


