30. Bürger und Adel
Adel an Bürger: Soll die Canaille doch krepieren
Hamburgs fortschrittliche Bürger hatten sich der Tugend ergeben, der Tugend der Leistung nämlich. Verdienst nur zählt, sagten sie, und gingen an die Börse, verstanden Verdienst aber durchaus auch in einem höheren, philosophischen Sinn. Sie waren Meritokraten geworden. Der durchschnittliche Adlige fand das befremdlich und machte sich damit auf Dauer unbeliebt bei den Elbrepublikanern.
Dies ist Teil 30 der Aufklärung in Hamburg: Johann Heinrich Bartels, Amandus Augustus Abendroth, Ferdinand Beneke und die Verbesserung ihrer Republik 1790–1835, which you can also read in English. Die Einleitung beschreibt, worum es geht, und wer einen Überblick über die bisher veröffentlichten Kapitel haben möchte, klickt bitte hier.
Die Damen und Herren mit den langen Ahnentafeln hatten die schlechte Angewohnheit, erst einmal herumzuschnuppern, ob auch ein Roturier, ein Bürgerlicher also, ein gemeiner Mann, die Luft verunreinige.[1] Erfahrung von Dr. Bartels. Vielleicht hatte ihm die Plaudertasche Karl August Böttiger – mit ihm hatte er vom Michaeliskirchturm die Hamburger Landschaft besichtigt – von jenem denkwürdigen adligen Weimarer Maskenball erzählt, den der sehr unangepasste Poet Jakob Michael Lenz im roten Domino gesprengt hatte. Es wird ruchbar, daß ein bürgerlicher Wolf unter die Heerde gekommen sei, alles wird aufrührerisch. Der Hofball desorganisirt sich.[2] Um Himmels Willen.
Da kannte Dr. Bartels urbanere Sitten. Im Schauspielhaus zu Palermo hatte er die Freude, spontan von einer Principessa angesprochen zu werden. Eccelenza,[3] nannte sie ihn. Es war Balsam für seine Ohren. Ferdinand Beneke, der jugendliche Radikale, drehte den Spieß um. Er und Johann Diedrich Schuchmacher – der mit den jakobinischen Bacchanalien – verweigerten auf der Promenade von Wilhelmsbad dem bunten Adelsvolk den Gruß. Schuchmacher ging brummend vorüber, wie man an degoutanten Juden Gruppen vorübergeht.[4] In seinem antiaristokratischen Affekt übersah Dr. Beneke allerdings, dass er ein massives Vorurteil der alten Gesellschaft offenbar selbst noch teilte, ihren Antisemitismus nämlich. Es sollte sich später zeigen, dass dieser blinde Fleck kein nebensächlicher Zufall war.
Der Adel stellte ein strukturelles Grundproblem der alten Gesellschaft dar. Er behinderte die wirtschaftliche Produktivität. Bartels fiel es immer wieder auf, dass selbst die fruchtbarsten Landstriche keinen Weg aus der Armut fanden. So die Gegend von Salerno. Die schöne Lage der Stadt zwischen Golf und Gebirge machte den Kontrast zur allgemeinen Verwahrlosung nur noch greller. Ursachenanalyse Dr. Bartels: allgemeine Trägheit. Das klang erst einmal stark nach Vorurteil und konnte schnell zu unerquicklichen Diskursen über die Faulheit der unteren Klassen führen. Aber das meinte der reisende Analytiker nicht. Trägheit war die Folge der Enteignung durch Adel und Klerus. Wozu sich anstrengen, wenn Grafen und Prälaten die Früchte der Arbeit in die eigene Tasche steckten? Ich habe schon oft darüber nachgedacht, schrieb Bartels aus Italien, was wol der Grund dieser Untätigkeit sein möge? und weiß keinen andern aufzufinden: als: Feudal-Verfassung, Druk und Gewinnsucht der kleinen Fürsten, verbunden mit der Menge fressender Mönche, die an dem Verdinste der Einwoner so lange nagen, bis ihnen alles zu Teil ward.[5]
Das war radikal, Goethe kam auf seiner Italienreise nicht darauf. Dem Bürger Bartels war hingegen völlig klar, dass Armut auch bei schönem Wetter Armut blieb. Damit in Zusammenhang stand die ausufernde Kriminalität Süditaliens. Alle Narungszweige sind ihnen genommen, alle Erholungsmittel unkräftig gemacht, der Hunger quält sie, an Arbeiten sind sie nicht gewönt, und wenn sie auch Arbeit suchten, sie fänden keine: was bleibt ihnen daher übrig? – Rauben und Morden, oder wie es hier heißt, andar alla montagna, sich in die Waldungen begeben, wo der Wonsiz derer ist, die sich mit Gewalt Brod erbeuten, was man ihnen so unbarmherzig raubt.[6] Ein Vergleich der Kriminalität in der aufgeklärt reformierten Toskana und unter dem Adelsregiment in Neapel bestätigte die Analyse: Mord und Totschlag unter dem Vesuv, Prosperität und ziviler Friede am Arno.[7] Es lag am plündernden Adel, der den kleinen Leuten keinen anderen Ausweg ließ.
Kein Wunder, dass Bartels unter diesen Umständen sogar einiges Mitgefühl für Angelo del Duka zeigte. Angelo, das Volk nannte ihn zärtlich Angelino, war ein neapolitanischer Robin Hood, ursprünglich ein patenter, kleiner Grundbesitzer. Vom adligen Nachbarn drangsaliert, griff er zur Selbsthilfe und musste von nun an als Vogelfreier in den Bergen leben. Er wurde zum Anführer einer Räuberbande, voll Edelsinn und Gerechtigkeit, nahm den Reichen, gab den Armen und machte den Behörden sogar einmal als verkleideter Mönch Vorschläge zur Verbesserung der Polizei. Mehr konnte man von einem Bandenchef nicht verlangen. Es kam, wie es kommen musste, er wurde gefasst und bestieg in Salerno das Schafott. Bartels erzählte die Geschichte liebevoll und im Detail[8] und ließ seine Leser dabei nicht im Zweifel, wo seine Sympathien lagen. Ich wag’ es aber zu behaupten, schrieb der zukünftige Hamburger Polizeichef, daß ongeachtet er Anfürer einer Räuberbande war, ihm doch der Name eines großen, edlen Menschen gebürt, den die Nachwelt mit Bewunderung nennen würde, wenn ihm die Vorsehung die Rolle eines Staatsmannes übertragen, oder ihn an die Spize eines Kriegsheeres gestellt hätte: statt daß izt Verachtung sein Lohn wird.[9]
Ob er sich später wohl noch an diese, seine schöne Meinung erinnern wollte? Angelo Duca war übrigens mit einiger Wahrscheinlichkeit das Vorbild für Rinaldo Rinaldini, den legendären Räuberhauptmann, den Christian August Vulpius, Goethes Sohn, in mehreren Bänden populär machte und den Dr. Beneke abends im Bett las. Bei seinem Lesepublikum durfte Reiseschriftsteller Bartels für derartige Geschichten mit gesteigertem Interesse rechnen. Das Schauspielhaus am Gänsemarkt brachte 1795 einen heroischen Kriminellen auf die Bühne: Abällino, der große Bandit – ein Werk, angesiedelt in Italien, dem Land, wo Gift und Dolch regierten. Das Publikum war begeistert.[10] Bei aller Unterhaltung war es aber auch hohe Zeit, noch einmal auf die schweren Schäden hinzuweisen, die der Feudalismus verursachte: denken Sie nur daran, daß Sizilien – hier konnten beliebig viele andere Länder eingetragen werden – noch unter dem Druke der Lehns-Verfassung seufzt, und die Ideen des Glücks werden aus Ihrer Seele verschwinden.[11] So war das also und es war ein Skandal.
Diese Erfahrung machte Dr. Abendroth eben in seiner Ritzebütteler Provinz. Es war noch nicht lange her, dass dort für eine Hochzeit auf Herrengut dem Amtmann eine Gebühr von drei Mark zu entrichten war. Was war das jetzt? Ist obsolet, Abendroth konnte sich gar nicht schnell genug vom moralischen Mittelalter distanzieren, soll es etwa ein Abkauf des iuris primae noctis seyn? welches wenn es ein ius seyn sollte, ich für keinen Preis übernehmen möchte.[12] Aber die Aristokratie an und für sich war alles andere als obsolet, der Senator machte sich keine Illusionen. Den aristokratischen Staat gab es in Deutschland überall und diesem Staat waren Menschen und Bürger gleichgültig. Wo das Hamburger Gemeinwesen gezielte Wohlfahrtspolitik betrieb, ließ das aristokratische Regime die Armen und Überzähligen einfach sterben. Sie hatten doch keine Chance, wozu die Mühe. Wenn wir ein aristokratischer Staat wären, so Abendroth, könnten wir uns damit trösten daß die feineren Leute … verschont würden und daß die Canaille crepirt. Die Ueberbevölkerung wird sich schon geben … wenn die Mortalität immer größer ist, und die übrigen zum Theil so schwach sind daß sie keine Kinder zeugen können. Deus providebit.[13] Das war also, Stand 1828, in den Augen Amandus Augustus Abendroths, Senators der Republik Hamburg, das Prinzip des aristokratischen Staats: Soll die Canaille doch krepieren.
Er musste nur einen etwas ausgedehnteren Spaziergang unternehmen, um diese These zu verifizieren. Die Bewohner einiger Dörfer um Ritzebüttel zahlten immer noch Feudalabgaben an das Kloster Neuenwalde im benachbarten Hannover, die sie nach Ansicht des Gouverneurs völlig ruinierten.[14] Das französische Kaiserreich schien Anfang 1810 die Chance zu bieten, die Zahlungen einzustellen, und der Gouverneur zögerte nicht. Der Ursprung all dieser Abgaben verliehrt sich in die dunkle Vorzeit, und es würde die größte Zeitverschwendung seyn, in den jetzigen Zeiten, wo auf Rechtstitel gar nichts ankömmt, die eine oder die andere geschichtliche Conjectur näher auszuführen, und daher das Recht Hamburgischer Seite diese Prästationen einzuziehen, mühselig zu deduciren, nur dies ist augenscheinlich, daß es für diese Dörfer höchst ersprießlich seyn würde, wenn diese drückenden Lasten ihnen abgenommen würden.[15]
Es wurde nichts daraus, obwohl Abendroth geneigt schien, die Konjunktur zu nutzen. Nach 1814 war das Problem akut wie eh und je. Am liebsten wären die Bauern und Bürger des benachbarten Königreichs Hannover, so sein Eindruck, in die Republik eingewandert, was allerdings auch nicht gut möglich war, da die Bevölkerung dort schon wuchs und nicht mehr allzu viel Zuwachs vertragen konnte. Wenn es rathsam wäre den Zuwachs zu befördern, so der Landesherr Ritzebüttels 1819, und wenn Plaz da wäre, so würde es bey dem Druk in Aushebung aller Steuern und Bezahlung ganz ungerechter Abgaben, den man im Lande Hadeln erfährt, bey dem Hasse und Widerwillen gegen das ganz aristocratische allen Adel höchstens protegirende hannöversche Gouvernement sehr leicht seyn die Volkszahl ganz bedeutend zu vermehren.[16] Aber es war kein Platz mehr, und selbst innerhalb ihres Landgebiets machte die Republik wenig Fortschritte bei der Ablösung feudaler Lasten, zum Ärger des Gouverneurs. Die Ritzebütteler Heidedörfer zahlten nach wie vor ihre Abgaben an die hannöversche Ritterschaft. Die hatte signalisiert, sie würde mit einer Ablösung in bar einverstanden sein. Nur konnten die meisten Bauern in den Dörfern das Geld nicht aufbringen. Also beantragte Abendroth staatliche Unterstützung.[17] Im Senat war sein Ansprechpartner der verlässliche Syndikus Jakob Albrecht von Sienen.[18] Aber auch der erreichte nichts.[19]
An der bürgerlichen Adelskritik änderte sich auch im Vormärz nichts Wesentliches, nur Ferdinand Beneke scherte spektakulär aus. Neuerdings schwärmte er für den erbgesessenen Adel … nach altsächsischen Grundsätzen und verstieg sich zu der sehr unbewiesenen Annahme, der Respekt vor dem Adel habe seinen Grund in jedem ächtdeutschen Gemüthe.[20] Er meinte sogar, man müsste ihn erfinden, wenn es ihn noch nicht gäbe. Der Adel gilt mir nicht bloß als etwas Bestehendes, sondern wenn er, (was aber bey uns Germanen nicht möglich ist) noch nicht existirte, so würde ich ihn als unsrer Nazionalität gemäß, und als eines der kräftigsten sittlichen Erhebungsmittel, und Praeservativ gegen allerley polit-moralisches Ungeziefer in Vorschlag bringen.[21] Das aber war für seine republikanische Umgebung so gewöhnungsbedürftig, dass selbst seine Freunde an seinem Verstand zweifelten: Syndikus Gries zum Beispiel, für den der Adel völlig aus der Zeit gefallen war.[22] Den Adel hatten die meisten Aufklärer abgeschrieben.
Die Abkürzungen StAHH, StAB und StACux beziehen sich auf Bestände der Stadt- und Staatsarchive von Hamburg, Bremen und Cuxhaven; die Fußnoten auf die Literaturliste.
[1] Bartels: Briefe, Bd. 3, S. 601.
[2] Böttiger: Zustände, 1838, Bd. 1, S. 19.
[3] Bartels: Briefe, Bd. 3, S. 601.
[4] Tagebuch Beneke, 3.8.1801.
[5] Bartels: Briefe, Bd. 1, S. 143f.
[6] Bartels: Briefe, Bd. 1, S. 148f.
[7] Bartels: Briefe, Bd. 1, S. 71, S. 148.
[8] Bartels: Briefe, Bd. 1, S. 151–157.
[9] Bartels: Briefe, Bd. 1, S. 151.
[10] Kopitzsch: Grundzüge, Tl. 2, S. 666.
[11] Bartels: Briefe, Bd. 2, S. 171.
[12] StACux, Amtsarchiv Ritzebüttel I Fach 2 Vol A II, Abendroth Handbuch Ritzebüttel.
[13] StACux, Amtsarchiv Ritzebüttel I Fach 13 Vol B Fasc 2 Dok 28, Abendroth an Hartung, 25.3.1828.
[14] Abendroth: Ritzebüttel, Tl. 1, S. 6.
[15] StACux, Amtsarchiv Ritzebüttel II Fach 1 Vol E, Abendroth an den Senat, 11.1.1810.
[16] StACux, Amtsarchiv Ritzebüttel II Fach 1 Vol F1 Dok 6, Abendroths Bericht über Ritzebüttel 1818.
[17] StACux, Amtsarchiv Ritzebüttel II Fach 1 Vol F1 Dok 6, Abendroths Bericht über Ritzebüttel 1818.
[18] StACux, Amtsarchiv Ritzebüttel II Fach 1 Vol F1 Dok 10, Abendroths Bericht über Ritzebüttel 1819.
[19] StACux, Amtsarchiv Ritzebüttel II Fach 1 Vol F1 Dok 15, Abendroths Bericht über Ritzebüttel 1820.
[20] Beneke: Tagebücher, 1819, Beilage Nr. 8.
[21] StAHH, Familie Beneke Ferdinand Beneke C 41, Beneke an Gries, 18.8.1820.
[22] Beneke: Tagebücher, 1820, Beilage Nr. 36, Gries an Beneke, 3.10.1820.


