22. Umbildung der ganzen Nation
Naturgeschichte für Arbeiterkinder
Dies ist Teil 22 der Aufklärung in Hamburg: Johann Heinrich Bartels, Amandus Augustus Abendroth, Ferdinand Beneke und die Verbesserung einer kleinen Republik 1790–1835. Die Aufklärung in Hamburg hat ihre eigene Homepage, which you can also read in English. Die Einleitung beschreibt, worum es geht, und wer einen Überblick über die bisher veröffentlichten Kapitel haben möchte, klickt bitte hier.
Die Aufklärer gaben sich bei der Reform der Schulen nicht mit Kleinigkeiten ab, sie verlangten die Umbildung der ganzen Nation.[1] So die Worte von Dr. Johann Heinrich Bartels, der in Hamburg bald Gelegenheit haben sollte, seine Ideen in die Wirklichkeit umzusetzen. Er verlangte eine Bildungsrevolution der Vernunft, nicht weniger. Dafür hatte er sich mit dem ersten Pädagogen des 18. Jahrhunderts befasst, mit Rousseau, und den Émile in Rom im schattigen und duftenden Park der Villa Negroni gelesen.[2]
Mitte der 1780-Jahre sammelte Bartels als Hofmeister und Reisebegleiter eines jungen Engländers, John Ives hieß er, seine ersten Erfahrungen. Ives sollte in Frankfurt Deutsch lernen und die weite Welt kennenlernen. Pädagoge Bartels hatte seine Prinzipien. Erster Grundsatz: selbst lernen. Der Lehrer erklärt die Regeln, für die Anwendung ist der Schüler zuständig. Zweiter Grundsatz: eigenständig urteilen. Ich versuche, so erklärte er der skeptischen Mutter seines Eleven, ihn so viel wie möglich auf alle Menschen und alle Dinge um ihn her aufmerksam zu machen, damit er über alles sein Urtheil giebt, das ich nie annehme, wenn es vorher nicht recht überdacht war, sondern er mus jeden Menschen jede Sache, von verschiedenen Seiten betrachten lernen ehe er sein Urtheil giebt und wenn es dann nicht recht ist, so suche ich ihn auf den rechten Punkt zu führen. – Dies suche ich besonders im freundschaftlichen Umgang zu bewirken, wo wir nichts vorbeilaßen ohne darüber zu sprechen. So glaube ich wird seine Begierde mehr zu wissen immer stärker und seine Menschenkenntnis immer mehr vergrößert werden.[3] Dritter Grundsatz: Auf die moralischen Maximen kommt es an. Das alles umgesetzt in lockerer Form, der Eindruck pädagogischer Indoktrination sollte möglichst vermieden werden, ideal ein Unterricht beiläufig beim Spazierengehen oder bey Lesung dieses und jenen Buchs.[4] Die Pädagogik war modern und aufgeklärt, Selbstdenken in jeder Hinsicht. Allerdings hatte das Dasein als bezahlter Pädagoge seine Schattenseiten. Die meisten Leute, so das deutliche Empfinden dieses Erziehers, stellten sich unter einem Hofmeister einen Bedienten vor.[5] Hinzu kam: Dr. Bartels fühlte sich als Lehrer von bevormundenden Erziehungsberechtigten eingeengt.
Die Dame Ives im fernen England war hellhörig geworden, als sie erfuhr, dass ihr Sohn nicht nur bei Spaziergängen lernte, sondern auch auf Bällen und Maskeraden. Es war nicht John, den es dorthin zog. Der Lehrer selbst, Herr Bartels, hatte eine Abneigung gegen geschlossene Räume, liebte die Unterhaltung und war im Übrigen der Ansicht, dass Bildung ein stark geselliges Element habe, wofür er in seiner Umgebung sicherlich viel Zustimmung fand. Nicht bei Madame Eliza. Es kamen Abmahnungen aus Norwich, vor allem wegen der Bälle. Bartels verteidigte sich schwungvoll, wurde allerdings durch sein Englisch etwas behindert. How is it possible for a young man to pass only his time agreeable and useful beeing always shut up in a single room like a prisoner …, must that allways remaining in the house not produce a certain shyness from men his fellow creatures of whose company and familiarity man’s happiness depend? Work and Conversation can never in regard of education be separated … Ask your great English works on Education and You will find out if I am in the right or not.[6] Madame Ives war nicht geneigt, einen Blick in die große englische Erziehungsliteratur zu werfen, der Vertrag wurde gelöst. Kandidat Bartels war nicht unglücklich darüber. Er wollte reisen und auf mittlere Sicht störte die mühselige Arbeit an John Ives – vernachlässigt in der Bildung seines Charakters von seinen Erziehern, in der Bildung des Körpers von der Natur,[7] so das etwas herbe Urteil dieses Erziehers.
Aber, der Mensch sei bildsam, so hieß es, und fähig, sich seiner Vernunft zu bedienen. Das eröffnete ganz neue Horizonte. Nur war dafür das Bildungssystem zu reformieren. In den Volksschulen Europas sah es im ausgehenden 18. Jahrhundert düster aus, wie Johann Heinrich Bartels in Süditalien ausgiebig kritisierte. Dort leiteten Mönche die Schulen und was war von denen schon zu erwarten? Eine verbesserte Moral und ein sachkundiger, nützlicher Unterricht auf jeden Fall nicht. Da lag die Ursache für die Krise des Südens. Der Staat sollte die dummen Pfaffen von den Katedern[8] werfen. Er tat das auch. Auf Sizilien führte die Regierung gerade weltliche Normalschulen ein, begleitet von einer Kampagne der aufgeklärten Elite. Einer von Bartels’ aufgeklärten Freunden, Saverio Landolina, hatte damit in Syrakus großen Erfolg, so sah es doch das Volk zu deutlich ein, daß, wie sie selbst sageten, li fondi di certe opere pie inutili, superflue e malamente amministrate, nicht besser verwandt werden konneten, als zur Erfüllung des lange genäreten Wunsches der Nation, nach besseren Schuleinrichtungen.[9] Das Volk erkannte überflüssige fromme Stiftungen und verlangte stattdessen neue, weltliche Schulen. Das begeisterte jeden Reformer des 18. Jahrhunderts. Es fragte sich nur, wie nachhaltig diese Entwicklung sein würde und ob die vermeintliche Bereitschaft der Nation, den Aufklärern zu folgen, nicht doch eher Wunschdenken war.
Andere Aspekte dieser Normalschulen gefielen dem reisenden Reformer Bartels nicht so sehr. Woher die neuen Lehrer nehmen? Landolina war auf die Idee gekommen, Aristokraten zu Volkerziehern zu ernennen, der natürlichen Autorität und des Vorbilds wegen. Nicht ganz unproblematisch, fand Bartels, der Mann von Verdinsten muß hier das Kriterium sein.[10] Daraus war abzuleiten, dass der Mann von Verdiensten unter dem Adel nicht der Regelfall war. Eines aber zeichnete sich bei aller Kritik ab. Die neuen Schulen entdeckten Talente, überraschende Talente im Volk, und genau das sollten sie auch. Zurück in Hamburg hielt Bartels weiter Kontakt zu seinen italienischen Freunden, und sie berichteten ihm über die neuesten Entwicklungen. Ho il piacere, schrieb mir neulich ein verehrungswürdiger Mann, di conoscere ne’ Ragazzi talenti sorprendenti, che il goberno dovrebbe meglio coltivare in appresso. Ja wol wäre dieß Pflicht der Regierung![11] Talentförderung als Regierungspflicht, sein Freund Abendroth sollte das wörtlich nehmen. Davon gleich mehr.
Die Hamburger Volksschulen genossen unter den Gebildeten keinen besonders guten Ruf. Im Katharinenkirchspiel gab es 20, in der ganzen Stadt mit ihren fünf Kirchspielen also wahrscheinlich deutlich mehr als 100.[12] Die Lehrer arbeiteten in ihren eigenen Schulen, sie waren Kleinunternehmer mit fragwürdiger Bildung und ungesundem Interesse am Geld. Schulgeld mussten alle bezahlen, auch Eltern die gerade so über die Runden kamen. Auch manchen Aufklärern taten diese Unternehmer Leid, Dr. Meyer zum Beispiel von der Patriotischen Gesellschaft: Was hat denn der Staat gethan, um den Zustand dieser Leute nur einigermaßen erträglich zu machen? Ein solcher Schulhalter arbeitet vom Morgen bis zum Abend … in dem mühseligsten Geschäft, und hat doch kaum sein Brodt; denn es ist unglaublich wie wenige Kinder aus dem Alter von acht bis funfzehn Jahren hier zur Schule geschickt werden.[13] Mehr Achtung für den Bürger-Erzieher forderte er. Nur wie? Durch Professionalisierung des Berufs und Einrichtung eines Lehrerseminars.[14]
Schon 1791 hatte ein unbekannter Philanthrop dafür 1.000 Mark gestiftet, falls sich innerhalb von zwei Jahren Rat und Bürger zur Gründung entschließen konnten. Sie konnten nicht, es war auch etwas unhöflich, die Gesetzgeber so unter Druck zu setzen. Aber immerhin diskutierte jetzt die Patriotische Gesellschaf zur Beförderung der Künste und nützlichen Gewerbe – von ihrem Bildungsexperten Karl Hübbe modern und radikal Gesellschaft z. B. d. K. u. n. G. genannt –[15] über Lehrerseminar und Volksschulen.[16] Auch der Philanthrop hatte ein Einsehen und verlängerte die Frist. Zwei bildungsinteressierte Pastoren entwickelten die Grundidee: Einrichtung einer Zentralschule mit angeschlossenem Lehrerseminar. Die Ausbildung sollte umsonst sein, ihren Lebensunterhalt aber mussten die Eleven sich als Hilfslehrer in der Stadt verdienen. Die Pastoren stellten sich diese Schule als eine Art Werkstatt vor, worin die Seminaristen praktische Anweisungen zum Unterrichte der Jugend erhalten, und unter Aufsicht sich im Lehrvortrage jeder Art üben sollen.[17] Zum Glück war diese Einrichtung schon vorhanden: die Zentralschule der Armenanstalt.
1795 richtete sie ein Institut für die Ausbildung von Lehrern ein, in dem sich ihre eigenen Schüler und Schülerinnen pädagogisch fortbildeten. Neben der Theorie unterrichteten sie unter der Aufsicht der hauptamtlichen Lehrer. Es war ein schneller Erfolg mit pragmatischen Mitteln und kleinem Aufwand. Lange hielt sich das Seminar aber nicht. Die Zentralschule der Armenanstalt erwies sich in Krisenzeiten insgesamt als überdimensioniert und musste kurz nach 1810 schließen. Ersatz gab es einige Jahre später in kleinem Format am Waisenhaus.[18] Dr. Abendroth, seit Ende der 20-er Jahre als Protoscholarch Leiter der Hamburger Bildungspolitik, forderte mehr. Er wollte die Lehr- und Lerninhalte verbessern und suchte nach einem Hebel für mehr Staatsaufsicht über die privaten Volksschulen. Ein Schullehrer Seminarium scheint unerläßlich nothwendig, es wird wie ich schon früher bemerkt die Wahlfreiheit nicht beschränkt werden können, allein es muß … festgesetzt werden müssen, daß nur aus den in dieses Album eingeschriebenen die Lehrer gewählt werden dürfen.[19] Die Republik sollte ihre Lehrer testen und zertifizieren. Eigentlich aber fand Abendroth, dass die Ausbildung von Pädagogen an die Universitäten gehörte, so wie sich schon jetzt mehrere junge Männer der Technologie, Kameral-Wissenschaft, Mathematik etc besonders widmen und demgemäß die Universität besuchen, wo das, was sie wünschen vorzüglich gelehrt wird, und nur die Collegia hören die für ihr Fach nützlich sind, so muß es auch mit denen gehen, die der Pädagogik sich besonders widmen wollen;[20] Das war der ganz weite Blick in die Zukunft.
Was und wie aber sollte die Schule der Armenanstalt eigentlich unterrichten? Anfangs versuchte sie es mit Industriepädagogik. Die Kinder der unteren Klassen sollten zur Arbeit erzogen werden. Es war nicht ganz leicht, unsre ganz verwahrloseten Zöglinge nur erst an Stillsitzen, an Aufmerksamkeit, an das erste roheste Nachdenken und an den ersten rohesten Arbeitsfleiß zu gewöhnen.[21] Aber bei den Schulreformern breitete sich Optimismus aus, besonders bei Caspar Voght, auf dessen Initiative die Schulen zurückgingen. Jungen lernten Spinnen, Mädchen Stricken, Weben und Nähen. Die Industrieschule entwickelte sich zu einer Art Berufsschule für Dienstboten. Auswärtige Besucher waren begeistert. Alle neue Anweisungen über Volksunterricht sind benutzt, die beste und zweckmäßigste Lehrmethode ist eingeführt. Die Gegenstände des Unterrichts sind nicht zu sehr vervielfältigt, und nicht zu einseitig. Es ist nichts ausgelassen, und nichts anders gewählt, als was der Mensch als Mensch, und was diese K l a s s e von Menschen für ihre künftige Bestimmung wissen muß.[22] Das Urteil, zu Papier gebracht gegen 1797, stammte von Johann Ludwig Ewald. Er reformierte gerade die Schulen in Bremen und hatte über Volksaufklärung und ihre Grenzen publiziert. Aber sollte das alles sein? Grundkenntnisse für Dienstboten und eine Schule, die eher einem Arbeitshaus für Kinder glich? Nein. Die Industriepädagogik selbst war in gewissem Sinne schon veraltet und die Schule der Armenanstalt entwickelte wesentlich ambitioniertere Ziele. Alle, die es interessierte, konnten es an einer großen Baustelle in der Neustadt sehen.
Im Oktober 1800 weihte die Armenanstalt ihre neue Zentralschule an der Michaeliskirche ein.[23] Senator Johann Heinrich Bartels leitete das Projekt und hatte dafür seinen Haus- und Hofarchitekten August Arens gewonnen. Das Gebäude verfügte über moderne Technik: Unter dem Dach befand sich ein Wassertank, der bei einem Feuer das Löschen erleichterte und der das ganze Haus mit Trinkwasser versorgte. Im ersten und zweiten Stock lagen die Klassenzimmer, im dritten die Wohnungen der Lehrer. Das Haus stand am Sagerplatz, nicht gerade eine der ersten Adressen Hamburgs mit seinen Schuppen und Kutscherställen. Der Schulbau sorgte aber scheinbar für eine gewisse Verbesserung der städtischen Infrastruktur. Um 1800 entstanden hier Wohn- und Geschäftshäuser.[24]
Die Rede zur Eröffnung hielt Johann Michael Hudtwalcker, Präses der Armenbehörde. Die Republik demonstrierte ihr humanitäres Engagement, während halb Europa Kriege führte: Wenn in einer solchen trüben Zeit ein kleiner Staat, wunderähnlich, Ruhe und Frieden genießt, was kann er dem Gott des Friedens für ein besseres Dankopfer bringen, als unser Hamburg durch die Errichtung der Armen-Anstalt getan hat?[25] So der sichtlich gerührte Senator. Kritik war allerdings auch zu hören: Zu lange Schulwege, zu viel Zentralisierung, zu viele Schüler an einem Ort: Die Polizei mußte gewöhnlich hinzutreten, um dem ungeheuren Unfug beim Schlusse der Schulen zu steuren.[26] Die Republik hatte wohl ziemlich selbstbewusste Schüler. Und dann waren da auch noch die Lehrer, deren sich ein gewaltiger Dünkel bemächtigte,[27] da sie ja nun an einem staatlichen Institut zur Verbesserung der Welt arbeiteten. Teurer wurde es dann auch noch. Erste Kalkulationen waren von 150.000 Mark Baukosten ausgegangen, am Ende waren es eher 250.000.[28] Die Armenanstalt finanzierte die Baukosten auch direkt aus ihrem Kapital, was maßgeblich dazu beitrug, dass hinterher nicht mehr viel davon übrig war.[29]
Die neue Zentralschule wurde zum aufgeklärten Musterinstitut. Der Lehrplan enthielt neben Lesen, Schreiben, Rechnen und Religion auch Fächer, die jedem Anhänger der Vernunft und des materialistischen Weltverstandes lieb und teuer waren: Übungen für logisches Denken, Sittenlehre, Geschichte, Naturkunde, Gesundheitslehre und Zeichnen. Der aufgeklärte Anspruch war extrem hoch. Die Schule der Armenanstalt hatte sich das Ziel gesetzt, in den Seelen der Kinder die Erkenntniß-Kräfte zu wecken, zu richten und zu ordnen, die Aufmerksamkeit und Urtheilskraft zu schärfen, um sie zum selbstdenken zu gewöhnen, das moralische Gefühl zu wecken und sie zur äußern Sittlichkeit anzuführen und anzuhalten.[30] Naturgeschichte und Naturlehre standen nicht einfach neben den traditionellen Fächern, sie waren die neue Grundlage, führten über die Betrachtung der Welt zur Religion, so dass es absehbar war, dass auch die Vorstellung von Gott in den Köpfen der Kinder eine immer rationalere Gestalt annehmen würde. Dort schien die Zukunft zu liegen. Selbst die Jacobi-Kirchenschule hatte kürzlich ihren Unterricht mit Naturlehre, Naturgeschichte, Technologie, Geschichte, Erdbeschreibung und der Unterweisung in der deutschen Sprache sehr glüklich erweitert.[31] Es war Kant für Kinder, außerordentlich ambitioniert, da es sich um die Kinder der unteren Klassen handelte, die sich anderweitig das Schulgeld nicht leisten konnten. Die Sozialpolitiker Bartels und Abendroth trugen erheblich dazu bei, die traditionellen Religionsmühlen in Realschulen fürs Volk zu verwandeln.
Die neue Pädagogik ging auf eine Reformkommission zurück, die die Armenanstalt im Herbst 1800 eingesetzt hatte. Die Schule brauche ein Lehrkonzept unter angemessener Berücksichtigung der Realfächer, mit festem Stundenplan und mit Unterricht durch Fachlehrer in kleineren Klassen.[32] Die Forderungen lagen ganz im Sinne von Dr. Bartels. Auch mir scheint es unzweifelhaft zu seyn, schrieb er an seine Mitkommissare, daß unsre Schule noch lange nicht das ist, was sie seyn soll falls nicht eine TotalReform mit derselben vorgenommen wird. Ich glaube daß das erste was geschehen mus, und ohne das alle Vorschläge über Methode und was dahin gehört, ohne Ausführung liegen bleiben werden, in der Ansezung besserer der Sache mehr gewachsener, mit unsrer Volksclasse und ihren Ideen und Vorurtheilen und ihren Sitten mehr bekannten Lehrern besteht.[33] Die aber waren nicht einfach zu finden.
In diesem Falle war es Schrader, der es irgendwie geschafft hatte, sich zum diensthabenden Direktor der Schulen aufzuschwingen, über den aber alle nur den Kopf schüttelten. Durchaus untauglich, giftete Dr. Bartels. Er war eine pädagogische Niete. Schrader mag recht gut um Buchstaben und buchstabiren zu lehren seyn: aber, um die Geisteskräfte der Kinder zu entwikeln, die Ideen gleichsam herauszuloben, seinen Unterricht ihren Fähigkeiten und Kräften anzumessen kenne ich keinen der weniger geschikt wäre, wie Schrader. Ihm fehlt Bestimmtheit der Begriffe und Deutlichkeit der Darstellung und ist es möglich, daß er bey diesen Mängeln ein guter Lehrer seyn könne?[34] Gerade bei der Aufklärung für Kinder versagte dieser glücklose Volkserzieher. Im sokratischen Dialog sollten sich die Lehrer mit den Kleinen unterhalten und ihnen die Welt erklären. Die hauptsächliche Geschicklichkeit eines Kinderlehrers besteht darin wenn er durch Fragen ihren Verstand zwekmässig ausbildet und ihre Ideen aus ihnen hervorholt,[35] so Abendroth. Schrader konnte es nicht, es gelang ihm nicht, sich den Staub des ABCs aus dem Gehrock zu klopfen und den frischen Wind der Neugier durch die Köpfe der Kinder wehen zu lassen. Abendroth erinnerte sich noch Jahrzehnte später mit humoristischem Schrecken an diesen missratenen Pädagogen.[36]
Senator Bartels’ Wunschkandidat als Schulleiter war Karl Hübbe, Pastor und Pädagoge am Waisenhaus, der den Posten wegen seiner ziemlich beengten finanziellen Umstände gut gebrauchen konnte. Er hatte Theologie studiert und war populär als Prediger und Seelsorger. Beneke pries ihn als in seiner Art hier einzigen biedern, immer mit MannesKraft handelnden rücksichtslosen Theologen[37] an – was immer das heißen mochte. Ende 1801 wurde er gewählt – allerdings zum Prediger in Allermöhe. Zur Wahl zum Direktor der zentralen Volksschule kam es nicht. Vielleicht lag es an der Bezahlung. Deshalb jedenfalls hatte sich Hübbe auch schon vom Waisenhaus verabschiedet. Das Waisenhaus würde sehr wohl thun, schrieb das Journal Hamburg und Altona, künftig seinen Catecheten so zu besolden, daß er nicht nöthig hätte, sich nach einer andern Versorgung umzusehen.[38]
Wie so oft, hing in der Republik viel vom Geld ab. Und das führte dazu, dass pädagogische Talente in den Kirchendienst abwanderten. Gouverneur Abendroth in Cuxhaven stoppte diesen Trend durch gute Lehrergehälter. Ansonsten war auch er überzeugt, dass die Zentralschule einen guten Direktor brauche, gab dem Problem aber zugleich einen säkularen Dreh: Ich glaube, daß zur Entwikelung der Ideen der Kinder ein vorzüglich gebildeter heller Kopf gehört, da dies nun bey mir die criteria eines Gelehrten sind, da bey diesen durch ein fortgeseztes immer fortschreitendes Studium derjenige Grad des hellen Denkens erlangt wird den ein solcher Unterricht erfordert, so würde ich suchen in diesem Sinne einen ganz vorzüglich gelehrten Mann zu dieser Stelle zu finden.[39] Vernunft und Naturgeschichte waren ihm wichtiger als vertiefte Bibelkenntnisse. Pädagogen sollten auf gleicher Ebene wie Techniker, Ökonomen und Mathematiker stehen. Auf die Professionalität kam es an.
Kurz vor Weihnachten 1800 setzte Abendroth sich hin und brachte ein paar sehr entschiedene Ansichten über die Schulpolitik zu Papier. Wahrscheinlich war er immer noch in gehobener Reformstimmung, seine Ratswahl lag gerade einige Monate zurück, ein guter Zeitpunkt, sich mit der so wichtigen Frage des Volksunterrichts zu beschäftigen. Die Schule der Aufklärer war ein Projekt der Vernunft. Man musste es dem neuen Senator nicht zweimal sagen, gerade deshalb wollte er aber aus dem rationalen Denktraining kein eigenes Unterrichtsfach machen, wie es in der Kommission vorgeschlagen worden war. Also möchte ich, erläuterte er seinen Kollegen, den Verstandesübungen kein besonderes Capitel anweisen, ich glaube daß dies das Generale des ganzen Unterrichts begreift.[40] Alle Fächer hatten sich dem Hauptauftrag der Schule unterzuordnen, Vernunft und Aufklärung zu verbreiten.
Darüber hinaus empfahlen die Reformer den Blick ins reale Leben. Über den Wert realistischer Lerninhalte hatte es in der Kommission allerdings kritische Anmerkungen gegeben, Abendroth wischte sie vom Tisch. Wenn auch Geschichte und Geographie einigermaßen überflüssig seyn sollten / – was ich jedoch nicht glaube : / so ist dies doch keineswegs bey der Naturgeschichte der Fall, es versteht sich daß hier nicht die Erlernung eines Systems gemeint seyn kann, sondern nur nähere Bekanntschaft mit den Dingen, die die Kinder täglich sehen, mit denen sie täglich umgeben sind.[41]
Woran war dabei zu denken? Das Leben der Pflanzen und der Tiere vielleicht, vorzugsweise der nützlichen; Ebbe und Flut, das war schon anspruchsvoller; oder Blitz und Donner, an deren sachkundiger Erklärung auch die Kinder der höheren Stände scheitern konnten. Wenn es ein warmer Schlag ist, dann schlägt der Blitz ein; wenn es ein kalter Schlag ist, der Donner. Mit dieser Erkenntnis hatte sich die kleine Tony Buddenbrook einmal vorlaut in Szene gesetzt. Das war höchst unvernünftig, um nicht zu sagen dämlich, empörte den Verstand des Großvaters und es verlangte ihn zu wissen, wer dem Kind diese Stupidität beigebracht habe.[42] Auch Senator Abendroth – in der Romanzeit wäre er Zeitgenosse Monsieur Johann Buddenbrooks gewesen – hätte bei einem ähnlichen Fall an der Zentralschule der Armenanstalt sicherlich seine Nachforschungen angestellt, um dem Täter einen zweckmäßigen Verweis zu erteilen. Vielleicht wäre er auf den etwas beschränkten Schrader gestoßen, dem war ja vieles zuzutrauen.
Das praktische Verstandestraining erforderte kleine Klassen. Im großen Pulk lernten die Kinder nichts, schon gar nicht das Denken. Obgleich ich in Schulsachen meine Urtheile nicht auf Erfahrung begründen kann, dies Zugeständnis Abendroths war wohl eher rhetorisch gemeint, so scheint es mir doch durchaus nothwendig, auch bey den Lese Übungen den Verstand zu üben, und von den vorkommenden Wörtern Gelegenheit zu nehmen, auch nüzliche Kenntnisse den Kindern beyzubringen – Daß nun zu dem übrigen Unterricht, das Schreiben und Rechnen etwa ausgenommen nur immer eine nicht zu große Anzahl von Kindern gezogen werden mus scheint mir durchaus nothwendig weil es so schwer ist eine größere Anzahl Kinder in der erforderlichen Aufmerksamkeit zu erhalten, was doch das erste Erfordernis ist wenn die Kinder aus dem zusammenhängenden Vortragen Nuzen haben sollen.[43]
Luftige Schulräume mit integrierter Wasserversorgung und ein pädagogisches Konzept auf der Höhe der Zeit führten dazu, dass die Zentralschule florierte. Sie kostete auch mehr. Die laufenden jährlichen Ausgaben erhöhten sich von 65.000 Mark 1798 über 80.000 ein Jahr später auf knapp 100.000 Mark 1800 – immerhin also um 50 Prozent im Laufe von nur zwei Jahren, ohne dass es dafür zwingende Gründe gegeben hätte. Auch die Zahl der Schüler stieg 1799/1800 innerhalb eines einzigen Jahres um 20 Prozent von 1.500 auf 1.800.[44] Bis 1807 verdoppelte sie sich noch einmal auf 3.600.[45] Diesmal ganz klar aus konjunkturellen Gründen. Bei steigender Arbeitslosigkeit brauchten die Eltern die Prämien, die die Armenanstalt für den Schulbesuch der Kinder zahlte. Finanziell wurde es langsam eng und der Druck auf die Schulen wurde spürbarer. Christian Nicolaus Pehmöller, er organisierte später den Neubau von Johanneum und Akademischem Gymnasium auf dem Domplatz, verlangte einen kompletten Aufnahmestopp. Ganz so schlimm kam es nicht, aber die Abendroth-Kommission vom September 1808 schlug die Abschaffung der Schulprämien vor und stellte sich auf den Standpunkt, daß zwar die proponirte Suspension der Aufnahme nicht zu proponiren, weil es im Publico eine zu große Sensation machen würde, dagegen aber die Aufnahme aller Kinder … so viel als möglich einzuschränken und zu erschweren, damit unsere schon so große, und fast nicht mehr zu übersehende Erziehungs-Anstalt nicht noch mehr sich vergrößere, sondern eingeschränkt werde, übrigens darauf anzutragen, daß die Lehrschule gänzlich revidirt werde.[46] Die Zentralschule begann zu schrumpfen.
Ein Punkt fand besondere Beachtung, die Schulprämie. Sie sollte Familien in den Stand setzen, ihre Kinder überhaupt zur Schule zu schicken und war eigentlich eine Sozialleistung, die an eine Bedingung geknüpft war: den Schulbesuch der Kinder. Jedes Kind, das kömmt, erhält schon dafür einen Schilling zur Belohnung. Kömmt es vor dem siebenten Jahre, oder macht vor diesen Jahren irgend ein Stück Arbeit, so erhält es dafür eine doppelte Prämie.[47] Mit dieser Schulprämie konnte ein Schüler bei ganztägigem Schulbesuch 12 bis 24 Schilling pro Woche verdienen,[48] viel Geld für eine einkommensschwache Familie, deren Kinder in der Regel früh mitarbeiten mussten. Die Armenanstalt sah das auch als eine Art Familienreform. Es entstand ein schöneres Verhältniß zwischen diesen Kindern und ihren Eltern, denen sie nun nicht mehr zur Last, sondern vielmehr nützlich waren und da diese die Unterstützung verloren, wenn ihre Kinder nicht wirklich unsere Schulen besuchten, so ward es ihr eigenes Interesse, sie zur Besuchung der Schulen anzuhalten.[49]
Fraglich war, ob das auf die Dauer finanzierbar war. Das Hamburger Präventionsprogramm weckte bei Pehmöller und Abendroth die Befürchtung, dass es sich zunehmend von nachgewiesener Armut entkoppelte und zu einer nach oben offenen Verpflichtung für die Republik führte. Es gebe keinen Anreiz mehr, sich selbst zu helfen. Das war die Sorge, zu viel Staat, zu wenig Eigeninitiative, im Ergebnis zu hohe Sozialausgaben. Auf diese Art waren, so wiederum Abendroth im Rückblick, die von der Armen-Anstalt unterstützten Personen, viel besser daran als die, welche ihr Ehrgefühl von der Armen-Anstalt zurückhielt, und gab es in der Meinung dieser Classe keine Gründe mehr, diese gewissermaßen ehrenvolle Unterstützung auszuschlagen, kurz es war dahin gekommen daß es keine Ehre mehr war sich selbst zu helfen.[50] Die bürgerliche Öffentlichkeit reagierte zunehmend skeptisch. Von Sitzprämie war die Rede. Bei Kritikern verband sich damit immer mehr die Vorstellung von faulem Jungvolk, das sich auf den Schulbänken am Sagerplatz den Hintern plattdrückte, nichts leistete und nach Schulschluss so heftig randalierte, dass regelmäßig die Polizei hinzutreten musste.[51] Und dafür gab es dann noch Geld. Man kann sich ungefähr vorstellen, was das gesittete Hamburg davon hielt.
Die Realfächer verschwanden aus dem Lehrplan. Nach der Reform von 1809 gaben die Lehrer pro Klasse und Woche zwölf Stunden Lesen, sieben Stunden Schreiben, acht Stunden Rechnen und elf Stunden Religion.[52] Der Stundenplan reflektierte wieder den gesellschaftlichen Status quo. Das wurde offen ausgesprochen, unterrichtet wurden die Kinder nur noch darin, was zu dem Fortkommen für ihren Stand, und für ihre Sittlichkeit das nöthigste ist.[53] Symptomatisch war dafür der Zeichenunterricht. Er sollte die Schüler auf eine Tischler- oder Maurerlehrer vorbereiten, hier hatte sich die aufgeklärte Schulreform ausdrücklich und konkret den beruflichen Aufstieg in den handwerklichen Mittelstand zum Ziel gesetzt. 1809 war davon keine Rede mehr. Die Armenanstalt stoppte das Unternehmen. Die Fortsetzung des Zeichenkurses für ein paar Jungen war lediglich dem patriotischen Herrn Lange zu verdanken, der bereit war kostenlos zu unterrichten.[54]
Dann sanken die Zahlen. 1810 hatte die Zentralschule nur noch 1.300 Schüler.[55] Im selben Jahr wurde sie aus Kostengründen geschlossen. Den Unterricht bestritten wieder die vielgescholtenen kleinen Privatschulen. Es stellte sich für einige Reformer nachdrücklich die Frage, ob die gar nicht so zentrale Zentralschule denn wirklich der Weisheit letzter Schluss war. Senator Abendroth fragte sich das schon seit zehn Jahren und hatte Ende 1800 seine Kollegen gewarnt, daß wir würklich bey der Aufzählung der Menge der Kinder die unsere Schulen besuchen leicht in Gefahr gerathen uns zu täuschen, wir sagen dem Publico beständig daß so und so viele Kinder der Trägheit &c entrissen sind; wir wissen aber keine bestimmten Angaben darüber, wie die vorher besuchten Armenschulen jezt besucht werden, ob wir durch die Schulprämien u. Bekleidung nicht uns eine Last aufgebürdet haben ohne im Ganzen viel Nuzen zu stiften Einige der Armenschulen … sind jezt unstreitig eben so gut wie unsere, welch ein Nuzen entsteht nun der niederen Volksclasse daraus ob die Kinder diese oder jene Schule besuchen, – da der ArmenAnstalt aus dem Besuchen unserer Schule eine so große Last erwächst.[56] Gute Frage – besonders nachdem die Schule am Sagerplatz ihr pädagogisches Konzept unter dem Druck der Verhältnisse über Bord geworfen hatte. Vielleicht war es auf lange Sicht vielversprechender, die Qualität der privaten Schulen durch staatliche Aufsicht zu verbessern und die Eltern bei der Zahlung des Schulgeldes zu unterstützen.
1811 wurde die Republik in das französische Kaiserreich integriert. Bei allem Fortschrittsgetöse hatte es in puncto Elementarschulen nicht eben viel zu bieten. Nach der Revolution gab es die großen Projekte der Volkserziehung. Aber es fehlte am Geld und bald auch am Interesse, das sich, je länger desto mehr, auf die höhere Bildung der Bürger konzentrierte. Der politische Umschwung zu Konsulat und Kaiserreich akzentuierte den Trend. Napoleon fand zu viel Bildung für das Volk überflüssig, wenn nicht gar gemeingefährlich, le petit peuple, les travailleurs des villes et des campagnes, ne sont pas nés pour être instruits; pour eux, l’instruction serait un luxe inutile, voire dangereux, car les lumières rendent le peuple raisonneur et critique et le détournent de l’atelier ou des champs.[57] Die Université impériale, die das gesamte Bildungswesen streng zentralistisch organisieren wollte, hatte in ihren Gründungsstatuten ziemlich viel Raum für die Kostümierung des Personals, für die Elementarschulen blieben nur ein paar Sätze, und die waren nicht besonders inspirierend. Ausdrücklich sollten diese Schulen sich auf den klassischen Dreiklang von Schreiben, Lesen, Rechnen beschränken. Dieser Staat würde in Hamburg keine Großprojekte zur Volkserziehung finanzieren
Von Geschichte und Naturkunde, den Lieblingsfächern des Senators Abendroth, war keine Rede mehr, vom Selbstdenken schon gar nicht. Das Ergebnis fiel entsprechend aus.[58] Trotzdem aber zählte Bildung in der Selbstwahrnehmung der kaiserlichen Beamten und so tauchten 1811 zwei erstklassige Wissenschaftler in Hamburg auf, um sich ein Bild von den Verhältnissen vor Ort zu machen, Georges Cuvier und François Noël. Cuvier war Zoologe von Rang, Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften und sprach Deutsch; Noël war seit 1802 einer der drei Generalinspektoren des öffentlichen Bildungswesens und seit 1808 Generalinspektor der Université impériale, dem Bildungsministerium des Kaiserreichs. An Fachkunde mangelte es also nicht.
Senior Johann Jakob Rambach, Hauptpastor von St. Michaelis, nahm sie mit auf eine Tour durch die Schulen seines Kirchspiels. Vier Stunden waren sie unterwegs. Der Pastor war mit sich und seinen Besuchern zufrieden, Herr Cuvier that selbst mehrere Fragen an die Schüler und begegnete ihnen sehr liebreich. Sie gaben mir ihre Zufriedenheit nicht undeutlich zu erkennen.[59] Liebreich war eines dieser wunderbaren Worte der Aufklärer, mit dem sie ihren pädagogischen Eros im Verhältnis zu den Schülern beschrieben. Ob die das auch so sahen, war nicht sicher. Offen blieb auch, ob sich die hochmögende Université trotz Besuchs von höchster Stelle in irgendeiner Weise um die Elementar- und Trivialschulen kümmern würde. Sie tat es schon in den alten Departements kaum.
Also nahm sich der Maire-Bürgermeister der Sache an. Abendroth setzte auf die vielen kleinen Privatschulen, von denen er bekanntlich glaubte, dass sie teilweise ein genauso gutes Ergebnis erzielten wie die Zentralschule der Armenanstalt. Das war nun erstens unvermeidlich, da die Zentralschule aufgelöst worden war. Zweitens allerdings kostete es auch Geld. Der Maire gründete einen Verein für die Unterstützung der Eltern bei der Zahlung des Schulgelds.[60] Drittens brauchten die privaten Schulen eine effektive Schulaufsicht, dann war mit wenig Geld womöglich viel zu erreichen. Die französischen Gesetze standen dem zumindest nicht entgegen. Also tat der Maire, was ihm richtig und vernünftig schien, und beauftragte Senior Rambach mit der statistischen Erfassung des Status quo. Statistik war der erste Schritt zur Aufklärung, das wussten alle Reformer, also ging es im Namen von Kaiser und Gesetz ans Forschen. Euer Hochwürden ersuche ich, so Maire Abendroth im Sommer 1811, um die Ausführung des Kayserlichen Decrets über die Organisirung des öffentlichen Unterrichts zu erleichtern, mir ein Tableau über die Schulen, welche in Ihrem Ressort existiren, welches folgende Punkte genau nachweisen muß.
1) Die Commune wo diese Schulen belegen sind.
2) Die Einkünfte und Ausgaben dieser Schulen.
3) Den Grad des Unterrichts, welchen die Schüler erhalten.
4) Die Zahl der Schüler.
5) Die Zahl der Lehrer in jeder Schule, und die Art des Unterrichts welchen sie ertheilen.[61]
Wenig später hatte der Maire die Ergebnisse in der Hand. Sie bestätigten seine Vermutung, dass manche Schulen den Erfordernissen der neuen Zeit entsprachen, aber auch seine Befürchtung, dass den Qualitätsschulen durch wilde Gründungen rühriger Kleinunternehmer das Wasser abgegraben wurde. Höchste Zeit für eine Mahnung an den aufsichtführenden Pastor Rambach: Ew. Hochwürden, kann ich nicht verhehlen wie ich in Erfahrung gebracht, daß häufig Schulen angelegt werden, deren Errichter sich zu dem Geschäft nicht qualificirt, die aber nichts desto weniger die bessern Unterrichts Anstalten sehr benachtheiligen. Es folgte die Bitte daß auch Sie gefälligst ein wachsames Auge auf die Anlegung solcher Schulen haben wollen, damit nicht der Unterricht und die moralische Bildung der Jugend in die Hände solcher Personen gerathe, die, ohne die nöthigen Fähigkeiten zu besitzen das Geschäft nur als Brod Erwerb betrachten.[62] Die Bitte des ungeduldigen Maire Abendroth bewegte sich hart am Rande der Rüge wegen Untätigkeit. Bei der pädagogischen Inkompetenz des Personals fehlte es an der erwünschten Real- und Verstandesbildung.
Deutlich zuviel hingegen gab es von der neuchristlich-religiösen Schwärmerei, für die arme Schuster und Schneider besonders anfällig waren. Zu allem Überfluss fühlten sie sich auch noch als Lehrer prädestiniert und redeten salbungsvoll von der Not der verlassenen Jugend. Dagegen half die Polizei. Kommissar Kolthoff hatte einen Schuster, wohnhaft auf dem Brook Nr. 17, beim illegalen Unterricht erwischt, und der Maire hatte ihn – Originalausdruck Abendroth – zur Rede gestellt, was für einen kleinen Schuster nicht allzu angenehm gewesen sein dürfte. Er wird sich … morgen früh bey Ihnen einfinden, schrieb Abendroth an Rambach, und ich ersuche Ew. Hochwürden, ihn nicht sowohl zu examiniren, als ihm vielmehr sein schwärmerisches Projekt auszureden. Es würde mir angenehm seyn, wenn Sie die Güte haben wollten, mir von dem Erfolg … einige Nachricht zu ertheilen.[63] Der Maire erwartete Vollzug. Die amtliche Autorität des Chefs der Geistlichkeit konnte dabei eine zweckmäßige Wirkung entfalten.
Die Abkürzungen StAHH, StAB und StACux beziehen sich auf Bestände der Stadt- und Staatsarchive von Hamburg, Bremen und Cuxhaven; die Fußnoten auf die Literaturliste.
[1] Bartels: Briefe, Bd. 3, S. 794.
[2] StAHH, Familie Bartels Johann Heinrich Bartels III e 1 b, Tagebuch, 30.4.1786. Es war eine römische Villa aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. mit damals sensationell gut erhaltenen Wandmalereien, ausgegraben wenige Jahre vor dem Besuch Bartels’. Heute sind die Malereien zerstört, im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe befinden sich Stiche, die die Motive zeigen. Anton Raphael Mengs schuf dafür teilweise die Vorlagen.
[3] StAHH, Familie Bartels Johann Heinrich Bartels III a 2, Bartels an Eliza Ives, o. D.
[4] StAHH, Familie Bartels Johann Heinrich Bartels III a 2, Bartels an Eliza Ives, o. D.
[5] StAHH, Familie Bartels Johann Heinrich Bartels III d 1, Bartels an seine Schwester Marianne, 6.12.1784.
[6] StAHH, Familie Bartels Johann Heinrich Bartels III a 2, Bartels an Eliza Ives, o. D., Antwort auf ihren Brief vom 4.2.1786.
[7] StAHH, Familie Bartels Johann Heinrich Bartels, Bartels an seinen Vater, 30.1.1785.
[8] Bartels: Briefe, Bd. 1, S. 260.
[9] Bartels: Briefe, Bd. 3, S. 799f.
[10] Bartels: Briefe, Bd. 3, S. 801.
[11] Bartels: Briefe, Bd. 3, S. 802.
[12] Verhandlungen und Schriften, Bd. 2 (1793), S. 157.
[13] Verhandlungen und Schriften, Bd. 2 (1793), S. 157f.
[14] Verhandlungen und Schriften, Bd. 2 (1793), S. 158 und 184; Bd. 5, S. 463.
[15] Verhandlungen und Schriften, Bd. 5 (1799), S. 463.
[16] Verhandlungen und Schriften, Bd. 5 (1799), S. 464–478.
[17] Verhandlungen und Schriften, Bd. 5 (1799), S. 480.
[18] StAHH, Senat Cl VII Lit He No 1 Vol 33 Dok 42, Memorandum Abendroths, 3.8.1831, S. 12. Über das Seminar am Waisenhaus vgl. auch Hübbe/Plath: Ansichten, Bd. 2, S. 267.
[19] StAHH, Senat Cl VII Lit He No 1 Vol 38 Dok 11b, Abendroth zum Reformplan Binders, 31.1.1837.
[20] StAHH, Senat Cl VII Lit He No 1 Vol 33 Dok 42, Memorandum Abendroths, 3.8.1831, S. 14f.
[21] Verhandlungen und Schriften, Bd. 2 (1793), S. 180.
[22] Ewald: Fantasieen, S. 65f.
[23] Heß: Hamburg, Teil 2, S. 236–251.
[24] Heß: Hamburg, Teil 1, S. 462.
[25] Zitiert nach Grolle: Armenfürsorge, S. 42f.
[26] Hübbe/Plath: Ansichten, Bd. 1, S. 148.
[27] Hübbe/Plath: Ansichten, Bd. 1, S. 148.
[28] Voght: Gesammeltes, S. 45.
[29] Voght: Gesammeltes, S. 57.
[30] So ein Bericht der Schulen von 1801, zitiert nach Beneke: Tagebücher, I, S. 106f.
[31] Hamburg und Altona, 1. Jahrgang, 1. Bd., 1801, S. 218.
[32] StAHH, Allg. Armenanstalt I 124, Bericht Rentzels über die Lehrschulen, o. D., wohl Ende 1800.
[33] StAHH, Allg. Armenanstalt I 124, Kommentar Bartels’ zur Schulreform, o. D., Ende 1800.
[34] StAHH, Allg. Armenanstalt I 124, Kommentar Bartels’ zur Schulreform, o. D., Ende 1800.
[35] StAHH, Allg. Armenanstalt I 124, Kommentar Abendroths zur Schulreform, 21.12.1800.
[36] StAHH, Allg. Armenanstalt I 6, Memorandum Abendroths, März 1830.
[37] Beneke: Tagebücher, 4.5.1801.
[38] Hamburg und Altona, 1. Jahrgang, 2. Bd., 1802, S. 145.
[39] StAHH, Allg. Armenanstalt I 124, Kommentar Abendroths zur Schulreform, 21.12.1800.
[40] StAHH, Allg. Armenanstalt I 124, Kommentar Abendroths zur Schulreform, 21.12.1800.
[41] StAHH, Allg. Armenanstalt I 124, Kommentar Abendroths zur Schulreform, 21.12.1800.
[42] Mann: Werke, Buddenbrooks (1981), S. 11f.
[43] StAHH, Allg. Armenanstalt I 124, Kommentar Abendroths zur Schulreform, 21.12.1800.
[44] Abendroth: Bemerkungen, S. 12.
[45] Voght: Gesammeltes, S. 93.
[46] StAHH, Allg. Armenanstalt I 27, von Abendroth unterzeichnetes Protokoll der Kommission, 10.9.1808.
[47] Ewald: Fantasieen, S. 66.
[48] Voght: Gesammeltes, S. 42. Das war eine Zahl für 1797.
[49] So der Report der Armenanstalt für das Jahr 1800, zitiert nach Voght: Gesammeltes, S. 64.
[50] Abendroth: Bemerkungen, S. 10f.
[51] Hübbe/Plath: Ansichten, Bd. 1, S. 148.
[52] Heß: Hamburg, Teil 2, S. 242.
[53] Heß: Hamburg, Teil 2, S. 246.
[54] Heß: Hamburg, Teil 2, S. 241.
[55] Heß: Hamburg, Teil 2, S. 243f.
[56] StAHH, Allg. Armenanstalt I 124, Kommentar Abendroths zur Schulreform, 21.12.1800.
[57] Le temps des instituteurs, Consulat et Empire 1799–1814, http://www.le-temps-des-instituteurs.fr/hist-consulat-et-empire.html, abgerufen 4.8.2017. … die kleinen Leute, die Arbeiter in den Städten und auf dem Lande, sind nicht für die Bildung geboren; Für sie ist Bildung ein überflüssiger Luxus, also gefährlich, denn die Aufklärer machen das Volk denkend und kritisch und wenden es von den Werkstätten und den Feldern ab.
[58] Fierro/Palluel-Guillard/Tulard: Histoire, S. 748f.
[59] StAHH, Ministerium III B Band 45 1811, Schreiben Rambachs an die Hauptpastoren, 21.7.1811.
[60] Stubbe da Luz/Wurm: ‚Hamburg‘, Bd. 2, S. 305.
[61] StAHH, Ministerium III B Band 45 1811, Abendroth an Rambach, 19.8.1811.
[62] StAHH, Ministerium III B Band 46 1812, Abendroth an Rambach, 10.9.1812.
[63] StAHH, Ministerium III B Band 46 1812, Abendroth an Rambach, 1.12.1812.


